Tierische Therapeuten: Warum Reiten mehr als nur ein Hobby sein kann

Amadeus ist 18 Jahre alt und hat das Downsyndrom. Für ihn ist das Reiten mehr als nur ein Hobby. Wie ihm sein Pferd Träumerei hilft und worin das Problem mit den Krankenkassen liegt.

Lautes Wiehern hallt durch den Stall. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages dringen zu den Pferden. Allmählich werden die Tiere auf dem Wortberghof in Essen ungeduldig. Sie wollen raus. Amadeus Colsman schnappt sich Strick und und nähert sich einer Stute. „Das ist mein Pferd. Es heißt Träumerei, weil es ein Traum ist“, sagt Amadeus, während er behutsam den Strick durch den Halfter führt. Noch vor einiger Zeit hatte er mit solch feinmotorischen Aufgaben Schwierigkeiten, denn der 18-Jährige hat das Downsyndrom. Dass ihm das Satteln nun so gut gelingt, hat er unter anderem seinem Pferd zu verdanken. Für Amadeus ist das Reiten nicht nur ein Hobby, sondern auch Therapie.

Mit dem Strick in der Hand führt er die Stute raus aus dem Stall. Ein Trecker rollt auf die beiden zu. Träumerei wird nervös. Amadeus weicht aus und besänftigt das Tier mit beruhigender Stimme. „Das war der Besitzer. Ich nenne ihn Opa Wortberg“, erzählt er. Seit Amadeus denken kann, ist er auf dem Hof unterwegs. Der 18-Jährige kennt hier jede Person.

Amadeus sitzt das erste Mal auf einem Pferd ein Schicksalstag?

Mittlerweile ist der Trecker wieder außer Sichtweite. Amadeus und Träumerei setzen ihren Weg in Richtung Sandplatz fort. Dort wartet Amadeus‘ Mutter Daniela Colsman mit einer anderen Stute. Sie erinnert sich an den Tag, an dem ihr Sohn zum ersten Mal auf einem Pferd saß: „Wie meine anderen Kinder habe ich Amadeus von klein auf mit zum Reiterhof genommen. Als er sitzen konnte, habe ich ihn einfach mal draufgesetzt.“ Damals wusste sie noch nicht, wie ihm das in Zukunft helfen könnte.

Ein Gespräch mit einer Kindergärtnerin von Amadeus sollte das ändern. „Amadeus muss drei oder vier gewesen sein, da erzählte seine Kindergärtnerin mir, dass Tiertherapie die beste Therapie ist“, sagt Daniela Colsman. Daraufhin besuchte die ausgebildete Reitlehrerin Weiterbildungen zum Tiertherapeutischen Reiten.

Richtig sitzen, Gleichgewicht halten, Anweisungen mit den Zügeln geben und all das gleichzeitig. Für Amadeus war das Reiten anfangs schwierig. „Ein Pferd ist kein Auto, das links fährt, wenn man links lenkt“, erklärt Daniela Colsman. Das Tier könne sich auch mal erschrecken. Dann müsse Amadeus reagieren, beruhigen und sich durchsetzen. In vielen Trainingsstunden näherte er sich mit seiner Mutter dem Reiten an.

Ein Pferd zu haben bedeutet, Verantwortung zu übernehmen

Amadeus lehnt über dem Tor des Sandplatzes und beobachtet Träumerei, wie sie vergnügt im Sand herumtollt. Die Probleme von damals gehören mittlerweile der Vergangenheit an. „So hoch bin ich heute Morgen beim Geländetraining gesprungen“, erzählt er stolz, während er seine Hand etwa einen halben Meter über dem Boden hält. Mit einem breiten Grinsen fügt er an: „Auf Träumerei bin ich Kreismeister geworden.“ Seit einigen Jahren nehmen die Stute und er an Wettbewerben teil.

Amadeus weiß, dass er auf Träumerei aufpassen muss. Foto: Pascal Nöthe

„Wenn wir auf einem Turnier sind, sage ich Träumerei, wir schaffen das! Wenn ich aber merke, dass das Pferd nicht will, dann lasse ich es.“

 

 

Reiten ist für ihn nicht nur ein Hobby. Amadeus weiß, dass er sich um das Tier kümmern muss. Mit von Stolz erfüllter Stimme erzählt seine Mutter: „Er hat riesige Fortschritte gemacht.“ Als Mutter, seine Reittrainerin und -therapeutin hat sie aus der Nähe verfolgt, wie sich ihr Sohn entwickelt. „Er hat gelernt, Verantwortung zu übernehmen und sich durchzusetzen. Durch das Training ist er sowohl körperlich als auch geistig echt fit geworden“, sagt sie.

Tiergestützte Therapie: Wie alles begann

Auch Helga Widder weiß, wie wirkungsvoll die Arbeit mit Tieren sein kann. Sie ist Präsidentin des Europäischen Dachverbands für tiergestützte Therapie (ESAAT). Vor 30 Jahren war sie eine der ersten, die sich in Österreich für die damals unbekannte Therapieform einsetzte.

Helga Widder zusammen mit ihrer Katze. Foto: Helga Widder

„Der Anfang war alles andere als leicht. Tiere waren undenkbar im Krankenhausumfeld.“

Eine tierfreundliche Leiterin einer Klinik erlaubte schließlich erste Besuche. Nach nur einem Jahr durfte Helga Widder mit ihrem Team auf alle Stationen. Es dauerte nicht lange und die Besuche häuften sich. Nach kurzer Zeit stieg die Nachfrage und Widders Team wuchs.

Heutzutage ist die tiergestützte Behandlung eine bekannte Therapieform. „Bei uns machen im Jahr etwa 150 Leute die Basis-Ausbildung und etwa 40 eine Fachkraft-Ausbildung“, bestätigt Helga Widder. In der Basis-Ausbildung lernen Auszubildende, tiertherapeutische Besuche zum Beispiel im Altenheim zu begleiten. Eine Fachkraftausbildung hingegen kann therapeutische oder pädagogische Einsätze selbst planen und durchführen. In Deutschland steigt laut einem Online-Artikel des SWR die Anzahl der Institute, die tiergestützte Therapien anbieten. Im Jahr 2021 seien es rund 300 Institute gewesen.

Was macht Tiere zu Therapiehelfern?

Aber was macht Tiere zu Therapiehelfern und wie profitiert Amadeus durch das Reiten? „Tiere verurteilen nicht. Träumerei zum Beispiel ist es egal, ob Amadeus Downsyndrom hat oder nicht“, erklärt Helga Widder. Dass die Tiere die Menschen ohne Vorbehalte annehmen, solle gerade denen helfen, die andere oft vorverurteilen. „Häufig werden Menschen mit Behinderung im Alltag angeleitet. Auf dem Pferd haben sie die Zügel in der Hand. Das baut Selbstvertrauen auf“, fügt die Österreicherin hinzu. Ein Tier schimpfe nicht, wenn etwas falsch macht. Dennoch muss sich Amadeus um Träumerei kümmern. Er muss das Tier füttern und bewegen. Das gebe Struktur und fördere das Verantwortungsbewusstsein, erklärt Helga Widder.

Die Tiertherapie wirkt aber nicht nur psychisch, sondern auch physisch. „Der dreidimensionale Gang des Pferdes hat einen positiven Einfluss auf uns Menschen“, sagt die Österreicherin. So konnte Amadeus beim Reiten seinen Gleichgewichtssinn und seine Ganzkörperkoordination trainieren.

Amadeus streichelt seinen Therapiehund Luca. Foto: Pascal Nöthe

Selbst ein Tier zu streicheln, kann eine heilsame Wirkung haben, erklärt Widder: „Wenn wir zum Beispiel einen Hund streicheln, wird in uns das Hormon Oxytocin freigesetzt. Darum fühlt sich das so schön an.“ Oxytocin, auch bekannt als „Bindungshormon“, kann Paarbindungen stärken, empathisch machen, Aggressionen dämpfen und Stress und Angst reduzieren, wie Neurobiolog*innen der Universität Regensburg herausfanden. Diesen Effekt machte sich 2015 die Nottingham Trent University in England zu Nutze. Für zwei Tage konnten Studierende dort Ferkel, Esel, Enten, Hühner und Ziegen in einem gesonderten Raum streicheln, um ihren Prüfungsstress zu bewältigen.Auch in der Therapie mit traumatisierten Patient*innen können Tiere helfen. „Zum Beispiel Kinder, die traumatische Erfahrungen mit Menschen gemacht haben, verschließen sich ganz schnell vor anderen Menschen. Ein Tier kann die Brücke zwischen“, erklärt Widder.

Während die Tiere bereits in verschiedenen Bereichen als Therapiehelfer eingesetzt werden, hinkt die Wissenschaft hinterher. „Es gibt zwar einige Studien, diese sind jedoch meist methodisch eher problematisch“, erklärt der psychologische Psychotherapeut Dr. Rainer Wohlfarth. Er leitet das Institut für tiergestützte Therapie „Ani.Motion“ in Sasbachwalden und erforscht dort seit 2006 die tiergestützte Therapie. Laut Wohlfarth seien tiergestützte Behandlungen zwar effektiv, aber es fehle an wissenschaftlichen Grundlagen, daher seien sie noch nicht anerkannt.

Das Problem mit den Krankenkassen

Das ist wohlmöglich auch der Grund, warum Krankenkassen die Kosten einer solchen Therapie nur in den seltensten Fällen übernehmen. Auf Nachfrage antwortet die Barmer, dass die Voraussetzung für eine Kostenübernahme „die Anerkennung nach der Hilfsmittel-Richtlinie“ sei. Das unterliege nicht den Krankenkassen, sondern dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Die Debeka Krankenversicherung schreibt, dass „bislang keine wissenschaftlichen Nachweise über die Wirksamkeit der tiergestützten Therapie vorliegen“. Demnach führt sie diese Therapieform nicht in ihren Tarifen auf. In Einzelfällen beteilige sich die Versicherung an tiergestützten Therapien wie der Hippotherapie (Therapeutisches Reiten). Solche Kostenbeteiligungen seien abhängig von „der medizinischen Notwendigkeit und der Qualifikation der Therapeuten“, die eine zertifizierte Ausbildung absolviert haben müssen. Kurz gesagt, Krankenkassen übernehmen die Kosten nur in Einzelfällen, wenn eine ausführliche ärztliche Begründung vorliegt.

Warum die Krankenkassen keine Kosten übernehmen, erklärt sich Wohlfarth so: „Der Einsatz von Tieren geschieht immer in verschiedenen Grundprofessionen wie der Ergotherapie oder der Psychotherapie.“ Einheitliche Diagnostiken und Methoden unter dem Decknamen der tiergestützten Therapie gebe es demnach nicht. Daher könnten die Krankenkassen sie nicht anerkennen.

Auch aus Helga Widders Sicht sind mangelnde wissenschaftliche Nachweise nicht der Grund, warum die Krankenkassen die Kosten für tiergestützte Therapieformen nicht übernehmen: „In der tiergestützten Therapie haben wir einen ziemlichen Wildwuchs. Nur zehn Prozent der Ausbildungen sind zertifiziert von einem Dachverband wie ESAAT. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum eine Anerkennung schwierig ist.“ Deshalb hat sie im April mit ihrem Dachverband ein internationales Klassifikationssystem ausgearbeitet, das klare Ausbildungsrichtlinien definiert. Helga Widder ist zuversichtlich, dass es damit nicht mehr lange dauern wird, bis die Krankenkassen die tiergestützte Therapie anerkennen und übernehmen.

Gold bei den Special Olympics

Amadeus muss nicht mehr darauf warten, dass die Krankenkasse seine Therapie anerkennt. Für ihn hat das Reiten mittlerweile mehr Wettkampf- als Therapiecharakter. Bei den Special Olympics in Berlin im Juni 2022 gewannen er und Träumerei die Gold-Medaille im Springen und die Silber-Medaille bei der Dressur. Auf dem Siegerpodest steht der 18-Jährige neben Philipp Lahm und hält seine Silbermedaille mit einem breiten Grinsen in die Kamera. Amadeus ist dankbar, dass er reiten kann und dabei nicht darauf angewiesen ist, dass die Krankenkassen seine Reit- und Therapiestunden übernehmen. „Wenn ich nicht mehr reiten könnte, wäre das schade. Ich mag mein Pferd. Ich brauch es und es mich auch!“

Beitragsbild: Pascal Nöthe

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