Der Brexit wird junge Britinnen und Briten besonders hart treffen. Eine Initiative von Studierenden kämpft deswegen für ein Umdenken – und eine zweite Volksabstimmung. Ist der EU-Austritt noch zu verhindern?
Die noble Piccadilly Street im Londoner Zentrum ist in die Farben Blau und Gelb getaucht. Menschen klettern auf Mauern, Bushaltestellen, Telefonzellen und schwenken Europaflaggen. Dazu halten sie selbstgebastelte Schilder in die Höhe: „Our planet needs EUnity“ oder „We need a EU turn“ steht auf den netteren, andere richten sich mit weniger freundlichen Wortspielen gegen Theresa May, Nigel Farage oder Boris Johnson. Die Menschen auf der Straße wollen sich selbst wieder einbringen – mit einem „People’s Vote“, einem zweiten Referendum über das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU. Sie fordern, dass das Volk die letzte Entscheidung über einen möglichen „Deal“, also einen Austrittsvertrag, haben soll. Und sie sind viele: Von über einer Million Teilnehmerinnen und Teilnehmer spricht der Veranstalter, andere Schätzungen gehen von einer hohen sechsstelligen Zahl aus. Die Demonstration an diesem Samstag Ende März könnte, nach Einschätzung der BBC, die größte seit dem Anti-Irakkrieg-Protest im Jahr 2003 gewesen sein.
Die Jugend wollte den Brexit nicht
Ein windiger, nordenglischer Montag, zwei Wochen vor der Demonstration. Adam O’Malley ist damit beschäftigt, Unterstützung für den „People’s Vote March“ zu gewinnen. Der 20-Jährige studiert an der Universität in Leeds, Yorkshire, und verteilt an diesem Tag Flyer auf dem Campus. „Viele der Studierenden im ersten oder zweiten Jahr konnten beim ersten Referendum gar nicht mit abstimmen“, sagt er. „Ein zweites Referendum würde uns die Möglichkeit geben, unsere Stimmen auch einzubringen.“ Adam war selbst erst 17, als Großbritannien über den EU-Austritt entschied. Obwohl er nicht mitwählen durfte, engagierte er sich damals in Kampagnen gegen den Brexit. „Ich habe mich schon als Kind für politische Debatten interessiert und wollte mich dann auch beim Thema Brexit einbringen,“ erzählt er. Hätte er selbst abstimmen dürfen, dann hätte er für „Remain“, also den Verbleib in der EU gestimmt – wie die Mehrheit seiner Altersgruppe. Über 70 Prozent der jungen Wählerinnen und Wähler zwischen 18 und 24 wollten in der EU bleiben. „Dementsprechend ist die Unterstützung für ein zweites Referendum unter den jungen Leuten auch sehr hoch“, sagt Adam. „Selbst meine Mitbewohner, die sonst überhaupt nicht politisch aktiv sind, reden ständig über den Brexit. Vielleicht habe ich sie ein bisschen angesteckt.“
Adam engagiert sich in der Initiative „Our Future Our Choice” (OFOC), die von Studierenden, Absolventinnen und Absolventen gegründet wurde und nicht nur in England, sondern auch in Nordirland aktiv ist. Jede größere Unistadt hat mittlerweile eine OFOC-Gruppe, OFOC Leeds zählt etwa 70 Mitglieder. „Der Rückhalt unter den Studierenden ist insgesamt riesig. Ich würde sogar sagen, dass fast 100 Prozent der Studierenden hinter unserer Kampagne stehen“, berichtet Adam. Auf den ersten Blick scheint er nicht unrecht zu haben – seine Flyer für die Demonstration werden gern genommen, und mit vielen Studierenden kommt er auf dem Campus ins Gespräch. „Wir haben auch schon Veranstaltungen in der Innenstadt organisiert“, erzählt er, „und auch da spürt man, dass die Stimmung immer mehr in Richtung ‚Remain‘ kippt. Die Versprechen, die 2016 gegeben wurden, wurden im Vertragsentwurf nicht eingehalten, und das merken die Leute doch. Wenn sich die Tendenz so weiterentwickelt, kann die Politik das nicht einfach ignorieren.“
Die Stimmung ist aufgeheizt
Das erste Referendum war in Leeds sehr knapp ausgegangen: 50,3 Prozent stimmten damals für den Austritt. „Brexit’s 50/50 City“ wird Leeds seitdem von der BBC genannt. Ein zweites Referendum würde anders ausgehen, da ist sich Adam sicher. „Wir arbeiten mit einigen anderen Initiativen zusammen, die ebenfalls gegen Mays Deal sind“, sagt der Geographie-Student, „darunter sind auch viele nicht-studentische Gruppen mit älteren Mitgliedern.“ Starken Gegenwind bekäme OFOC vor allem online. „Das ist eine kleine, laute Minderheit der totalen Brexit-Hardliner. Die hören OFOC schon deswegen nicht zu, weil wir angeblich zu jung sind, um Ahnung zu haben. Oder weil wir zu international sind. Einige von uns haben einen Migrationshintergrund und werden dann bei Facebook oder Twitter heftig beleidigt. Was dieser Brexit an Hass entfesselt hat, ist einfach nur gruselig.“
Die OFOC-Mitglieder versuchen, dem Hass Fakten entgegenzusetzen. Von Wirtschaftswissenschaftlern der Universität Oxford haben sie ausrechnen lassen, welche Folgen der Brexit haben könnte. Das Ergebnis: Jede Variante des Brexits würde die Einkommen in Großbritannien voraussichtlich nachhaltig drücken. Diese Entwicklung würden vor allem die neuen Berufseinsteiger zu spüren bekommen, die ihre ganze Karriere nach dem Brexit aufbauen. Besonders stark wären wohl die Auswirkungen nach einem harten Brexit ohne Deal: Bis 2050 könnte jeder jetzige Berufseinsteiger bis zu £108.000 an Einkommen verlieren. Davon könnte man an einer durchschnittlichen britischen Universität die Studiengebühren für drei Bachelorstudiengänge bezahlen. Selbst bei einem vergleichsweise weichen „norwegischen Brexit“, bei dem Großbritannien im Europäischen Wirtschaftsraum bleibt, müssten junge Menschen noch mit einem Einkommensverlust von etwa £20.000 Pfund rechnen.
Müde vom Brexit
Dass die Regierung wirklich noch einmal über den Brexit abstimmen lässt, gilt als unwahrscheinlich.
Zu sehr waren die Politikerinnen und Politiker in der letzten Zeit damit beschäftigt, sich gegenseitig zu zerfleischen. Dem Chaos im Unterhaus wollen die Aktivistinnen und Aktivisten Einigkeit entgegensetzen: Neben den Jugendlichen protestieren beim „People`s Vote March“ auch Familien und Rentner. Die EU tragen sie als Umhang, als Hut oder als blau-gelben Regenschirm bei sich. „Am meisten nerven mich die Leute, die einfach ihre Ruhe vom Brexit haben wollen“, sagt Adam. „Die hoffen, dass jetzt irgendein Deal kommt, damit das Thema vom Tisch ist. Dabei wird ein Brexit-Deal doch erst der Anfang von vielen Veränderungen sein, die wir zum Teil jetzt noch gar nicht einschätzen können. Der Brexit wird uns auf jeden Fall noch lange begleiten.“ Adams Hoffnung ist, dass die Genervten noch zu Verbündeten werden könnten – indem sie sich auch für den Verbleib in der EU aussprechen. Und sei es vielleicht nur, um sich danach endlich um andere Dinge kümmern zu können.