Neustart in der realen Welt: Tim lernt ohne Computerspiele zu leben

Computerspiele haben Tims Leben bestimmt: Er hing nur noch vor dem Computer, hat kaum gegessen und geschlafen. Im Auxilium Reloaded in Dortmund lernt er jetzt Medien verantwortungsvoll zu nutzen.

Er sieht aus wie ein ganz normaler, gesunder junger Mann: dunkelblonde Haare, die an den Seiten etwas kürzer sind als am Oberkopf, eine gewöhnliche Statur und freundlich blickende Augen. Aber wenn auf einem Computerbildschirm vor ihm Videospiele laufen, fällt es ihm schwer den Blick abzuwenden. Tim* ist 19 Jahre alt und wohnt seit September 2018 im Auxilium Reloaded in Dortmund-Aplerbeck, einer therapeutischen Einrichtung der Malteser für junge Erwachsene mit riskantem Medienkonsum. Bis dahin war es kein einfacher Weg.

An diesem heißen Sommertag sitzt Tim auf einer Couch im Auxilium Reloaded, neben ihm sein Therapeut Magnus Hofmann. Tim hat den rechten Fuß auf sein linkes Knie gestützt und fummelt an seinem Schuh herum. „Das geht jetzt alles sehr in Richtung Vergangenheit“, setzt der Therapeut vorsichtig an, aber Tim winkt ab und erzählt. Mit 15 Jahren hat er seinen ersten Computer bekommen und angefangen darauf Spiele zu spielen.

Ich hatte es nicht leicht in der Schule durch Mobbing und so. Da sucht man sich dann Ablenkung.

Die bekam Tim durch Spiele wie „League of Legends“ oder Egoshooter-Spiele. Am Anfang hat er nur nach der Schule gespielt, dann auch nachts, und irgendwann ist er gar nicht mehr zu Schule gegangen, um weiter spielen zu können.

Tim hat kaum noch geschlafen oder gegessen. Wenn er Hunger hatte, kam es vor, dass er sich mitten in der Nacht eine Pizza in den Ofen geschoben hat. Nach und nach hat er seine Hobbies aufgegeben: Er ist nicht mehr zum Leichtathletik und Judo gegangen, zuletzt hat er mit dem Klavierunterricht aufgehört, obwohl er acht Jahre lang gespielt hatte. Diese Vernachlässigung von allem sei ein typisches Symptom für riskanten Medienkonsum, sagt Therapeut Magnus Hofmann.

In Deutschland gelten laut einer Forsa-Studie von 2019 15,4 Prozent der 12 bis 17-jährigen als Risiko-Gamer. Sie zeigen ein riskantes Spielverhalten, das einer Sucht nahe kommt. Die Drogenaffinitätsstudie der Bundeszentrale für politische Bildung aus dem Jahr 2015 geht von 5,8 Prozent aller 12 bis 17-jährigen in Deutschland aus, die Computerspiel- oder Internetabhängig sind. Bei Männern zwischen 18 und 25 Jahren sind 2,5 Prozent betroffen. Offiziell als Krankheit anerkannt wurde Computerspielsucht erst 2018.

Die Schule hat unter Tims Spielverhalten gelitten

Bei der Forsa-Befragung gaben 15 Prozent der Jugendlichen an, dass sie durch das Spielen ein bis zweimal pro Woche Aufgaben für die Schule vernachlässigt haben. Ähnlich war es auch bei Tim. Den Realschulabschluss hat er gerade noch so geschafft. Dann wollte er ein Fachabitur mit dem Schwerpunkt Informatik machen, aber nach einem halben Jahr hat er die Schule abgebrochen.

Tims Eltern waren mit der Situation überfordert. Hin und wieder haben sie das WLAN ausgeschaltet, um ihrem Sohn keine Chance zum Spielen zu geben. Aber erst zu spät haben sie gemerkt, dass sie eingreifen müssen. Das sei oft der Fall: die Jugendlichen könnten ihr extremes Spielverhalten gut verstecken, erklärt Magnus Hofmann.

Tim hat selbst gemerkt, dass er ein Problem hat, auch wenn er es noch nicht wahrhaben wollte. Er hat seine Eltern um Hilfe gebeten. Daraufhin war er zwei Mal stationär in Behandlung, in der Psychatrie. Einmal für zwei Wochen und einmal für vier.

Außerdem ist er ein Jahr lang zu einem Therapeuten gegangen. „Da hat man dann aber nur die Sachen aus der Vergangenheit aufgearbeitet“, sagt Tim. Sein aktueller Therapeut weiß: „Zu Hause setzt man das Besprochene meist nicht um.“ Tim fehlte eine konstante Hilfe.

Schwächeanfall ist Auslöser für die Therapie im Auxilium Reloaded

Deswegen hat er sich für das Auxilium Reloaded entschieden. Von der Einrichtung hat er im Mai 2018 bei der Suchtberatung erfahren. Kurz zuvor hatte er einen Schwächeanfall: Er hatte zu wenig gegessen, schließlich hätte ihm die Zeit zum Essen ja fürs Spielen gefehlt. Aber Tim ist klar geworden: „Ich sollte mal überlegen, was ich mit meinem Leben machen möchte.“

In der Einrichtung gibt es zwei Wohngruppen für jeweils sieben Bewohner. Die Kosten für ihren Aufenthalt übernimmt in den meisten Fällen das Jugendamt, manchmal bekommen die jungen Erwachsenen auch finanzielle Unterstützung von den Landschaftsverbänden.

Die Bewohner leben weitgehend abstinent von Medien, haben aber pro Tag ein bestimmtes Kontingent an Medienzeit zur Verfügung. Am Anfang dürfen sie eine Stunde pro Tag beispielsweise das Smartphone oder den Computer der Wohngruppe nutzen.

Wenn ein Bewohner mehr Medienzeit haben möchte, muss er einen Antrag dafür stellen. Gemeinsam mit dem Bewohner entscheidet Magnus Hofmann, welches Medienkontingent derjenige verdient hat. Insgesamt sind bis zu fünf Stunden pro Tag möglich. „Es muss deutlich sein: Hier läuft ein anderes Medienverhalten ab, als zu Hause“, so Hofmann.

Drei Stunden Medienkonsum am Tag 

Tim darf aktuell drei Stunden am Tag Medien konsumieren. „Meistens nutze ich das auch voll aus“, sagt er. Wenn er mit einem der anderen Bewohner ins Fitnessstudio geht und über sein Handy Musik hören möchte, geht das schon von seinem Kontingent ab. Auch als er mit Hilfe eine App für die theoretische Führerscheinprüfung gelernt hat, wurde das von den drei Stunden Medienzeit abgezogen. Magnus Hofmann begründet das so: „Wenn ich alleine zu Hause lebe, muss ich auch entscheiden: nutze ich die Zeit am Handy oder am Laptop um Serien zu gucken, oder um zu lernen.“

Obwohl Tim hauptsächlich Probleme mit übermäßiger Computernutzung und Computerspielen hatte, betreffen die Regeln im Auxilium Reloaded alle Medienarten. „Die Medienart ist nicht der Auslöser für die Sucht und außerdem sind Smartphones heute ja schon kleine Computer. Im schlimmsten Fall könnte das Suchtverhalten darauf übertragen werden“ erklärt der Therapeut.

Die Blackbox als Ort zum Zocken

Zusätzlich zum Medienkontingent dürfen die Bewohner in die Blackbox, um zu zocken – zumindest sobald sie die Therapie angefangen und ein Hobby ausprobiert haben. Die Blackbox ist ein separater Raum, der mit einer eigenen Konsole und eigenen Spielen genutzt werden kann.

Den Zugang dazu müssen sich die Bewohner aber erst verdienen, zum Beispiel durch gute Einzelgespräche. In einer Woche können sich die Bewohner insgesamt fünf Spieleinheiten mit einer Dauer von jeweils einer halben Stunde verdienen.

Magnus Hofman erklärt das Konzept so: „Es geht bei uns nicht darum zu sagen: ‚Dieses Spiel nicht mehr spielen‘, sondern ‚nicht mehr auf diese Art und Weise‘“. Die Vermittlung eines gesunden Medienverhaltens stehe im Vordergrund. „Wir wollen den Blick der Bewohner auf Medien verändern.“

Ich finds gut, dass die Mediennutzung so eingeschränkt ist

Tim gefällt sein neuer Lebensstil, er fühlt sich wohl im Auxilium Reloaded: „Hier mache ich was ohne Computer. Ich finds gut, dass die Mediennutzung so eingeschränkt ist.“ In den letzten Monaten hat Tim viele Praktika gemacht. Er hat unter anderem in einer Kfz-Werkstatt gearbeitet, in der Schreinerei, als Textildrucker und als Florist. Durch den Arbeitsalltag bekommt sein Tagesablauf eine Struktur – etwas, das für die Bewohner sehr wichtig und hilfreich sei.

Tim spricht mit Therapeut Magnus Hofmann über seine Probleme.

Nach einem Frühstück, an dem die Bewohner teilnehmen können, aber nicht müssen, geht es für Tim zu seiner Praktikumsstelle. Dahin darf er sein Handy mitnehmen, ohne, dass es von der Medienzeit abgeht. „In der normalen Welt, wäre es komisch ohne Handy“, begründet das Magnus Hofmann.

Nachmittags stehen Therapiesitzungen an, einmal die Woche gibt es eine Gruppensitzung. In den Einzelgesprächen gehe es um individuelle Probleme der jungen Erwachsenen. „Es geht nicht nur um Computerspielprobleme, sondern alle Probleme sollen Raum bekommen.“ Die Gruppengespräche sollen den Bewohnern vor allem zeigen, dass sie nicht alleine sind und ihr Selbstbewusstsein stärken.

Kontakt zu anderen fällt schwer

Jeden Tag bereiten Haushaltshilfen eine warme Mahlzeit zu, an Wochenenden kochen die Bewohner oft zusammen. Und auch unter der Woche gibt es gemeinsame Freizeitaktivitäten, wie zum Beispiel bummeln gehen oder ein Museumsbesuch.

Allerdings hätten viele der Bewohner Schwierigkeiten vor die Tür zu gehen oder mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Auch für Tim war das anfangs nicht leicht. „Ich hatte nicht so viel Kontakt mit den Leuten hier.” Mittlerweile habe sich das geändert.

Die Abende stehen den Bewohnern generell zur freien Verfügung. Ab 20 Uhr darf der Fernseher eingeschaltet werden, ohne dass die Zeit vom Medienkontingent abgezogen wird. Das gemeinsame Fernsehen in der Wohngruppe soll etwas Normalität vermitteln. Um 22:30 Uhr müssen alle Medien abgegeben werden und es ist Bettruhe. „Der Tag ist relativ voll, um die Leere zu füllen, die sonst da wäre“, so Magnus Hofmann.

Tim glaubt, dass er durch die Therapie schon viel gelernt hat. „Am Anfang wusste ich gar nicht was ich möchte und was mir Spaß macht.“ Jetzt hat er neue Hobbies gefunden, wie zum Beispiel ins Fitnessstudio gehen, und durch Praktika hat er gelernt, wie er sich im Betrieb zu verhalten hat. Ab dem kommenden Schuljahr möchte er ein Maschinenbaufachabitur machen.

Ich möchte in der Schule gut zurechtkommen und mir sicher sein können, dass ich nicht rückfällig werde.

Trotzdem muss er noch eine Weile in der Einrichtung bleiben. Ein regulärer Aufenthalt dort dauert im Durchschnitt eineinhalb Jahre. „Ich lass mir das offen wie lange ich noch bleibe“, sagt Tim. Er hat Angst, dass er rückfällig werden könnte, sobald er alleine wohnt. Trotzdem möchte er bald in eine eigene Wohnung ziehen. Tims Ziel: „Ich möchte in der Schule gut zurechtkommen und mir sicher sein können, dass ich nicht rückfällig werde.“

*Name von der Redaktion geändert

 

Betroffene können sich unter anderem über diese Internetseiten Hilfe suchen:

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: https://www.bzga.de/

Fachverband für Medienabhängigkeit: http://fv-medienabhaengigkeit.de/hilfe-finden.html

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