Die rostigen Flutlichtmasten spiegeln sich in den Pfützen auf der Asche. Der Regen hat die Laufbahn rund um den Kunstrasenplatz aufgeweicht. Florian Witte stapft eingehüllt in eine dicke schwarze Winterjacke über die Laufbahn. Die kleinen Steinchen der Asche knirschen unter den Sohlen seiner blau-gelben Sneaker. Trotz der grauen Wolken, der kalten Temperaturen und des anhaltenden Regens gibt es für den 20-Jährigen an diesem Nachmittag keinen Ort, an dem er lieber wäre als an der Glückauf-Kampfbahn in Gelsenkirchen-Schalke.
Das Stadion ist einer der geschichtsträchtigsten Orte des deutschen Fußballs. Mehr als 90 Jahre nach dem Bau geht Florian durch den einstigen, zum Eingang umfunktionierten Spielertunnel. Florian ist Groundhopper. Jemand, der durch Europa und die Welt reist, um sich in verschiedenen Ländern und Städten Fußballspiele anzugucken.
Als „Ground“ bezeichnet der Fan ein Stadion. Ihm ist egal, wie groß es ist oder wie hochklassig der Fußball ist. Von Bundes- bis Kreisliga hat er in verschiedenen Städten alles gesehen. Heute steht das Duell Teutonia Schalke gegen Arminia Ückendorf auf dem Programm. Gelsenkirchen, Kreisliga A, Staffel zwei, Elfter gegen Zwölfter, viel tiefer geht es im deutschen Fußball nicht.
An diesem Ort feierte der FC Schalke 04 seine letzte deutsche Meisterschaft. Mehr als sechzig Jahre ist das her. Der Glanz ist verflogen. Das Dach der Haupttribüne ist voller Löcher, mal größer, mal kleiner. Wind zieht von oben durch die schmalen Ritzen.
An der Seite des Eingangs steht ein Aschenbecher, einer der Zigarettenstummel glüht noch. Der Rauch der Kippe ist das Erste, was die Besucherinnen und Besucher empfängt. „Das ist einfach ein geiles Stadion“, schwärmt Florian.
Gebaut wurde die Glückauf-Kampfbahn in den 1920er Jahren. Aktuell würden solche Stadien oft abgerissen, um Platz für Wohngebäude oder Einkaufszentren zu schaffen, sagt der Fußballfan.
So eine alte Stadionperle muss man einfach mal gesehen haben.
Dass Wind und Regen die hochgegelte Frisur zerstören? In diesem Moment völlig egal. Florian zieht den Reißverschluss seiner Jacke ganz hoch und vergräbt sein Kinn in der Fütterung.
Dort, wo andere einen heruntergekommenen Steinhaufen mit ein paar Bänken sehen, schlägt Florians Herz für den Fußball am stärksten. Seine Faustregel: „Je ranziger das Stadion aussieht, desto cooler ist der Ground.“ Die Stadien seien entsprechend alt und man könne die Fußballgeschichte förmlich einatmen. „In den Anfangsjahren des Stadions wurde Schalke hier ja sogar noch regelmäßig Meister.” Heute könne man sich eine Schalker Meisterschaft ja gar nicht mehr vorstellen. Der BVB-Fan kann sich ein Lachen nicht verkneifen.
“Ground” in 171 Stadien gemacht
Florian blickt auf das Spielfeld, wo die beiden Mannschaften sich gerade aufwärmen. Während in der Bundesliga heute gefühlt zehn verschiedene Vereinshymnen vor dem Spiel gesungen werden, sorgt hier das Rauschen der angrenzenden Autobahn 42 für die akustische Begleitung. Florian vermisst die große Show nicht. Genauso wenig, wie die rund 20 Zuschauer, die das Spiel mit ihm verfolgen.
Die meisten Spiele hat Florian in der Regionalliga gesehen, insgesamt war er in 171 Stadien. Hier steht das Fußballspiel im Vordergrund, nicht das Event. Deshalb schaut er sich immer das gesamte Spiel an. Andere Groundhopper bleiben manchmal nur eine Halbzeit lang. Ob das dann als „gemachter“ Ground gilt, ist in der Szene umstritten. Voraussetzung ist lediglich, dass auch ein Spiel läuft. Eine reine Stadionbesichtigung verstößt gegen den Kodex der Hopper.
Ein soziales Netzwerk für Groundhopper
Seine Grounds archiviert Florian in einer App auf seinem Smartphone. Auch in Gelsenkirchen zückt er als erstes sein Handy. Mit seinen Fingern fährt er über den Bildschirm, wischt die Regentropfen weg und tippt auf ein kleines blaues Stadionsymbol auf seinem Display, dem Icon für die App „Groundhopper Live Fußball“.
Sofort sieht er, welche Fußballplätze seine Freundinnen und Freunde in jüngster Zeit besucht haben. Die App ist eine Art soziales Netzwerk für Stadionbegeisterte, ähnlich wie Facebook oder Instagram. Nur laden die Userinnen und User keine Selfies mit dem Eiffelturm hoch, sondern fotografieren Tribünen, Eingangstore und Fankurven.
https://www.instagram.com/p/BbhclddFdVx/
Entwickelt wurde „Groundhopper Live Fußball“ von zwei Norwegern, erzählt Florian. Genutzt würde die App aber hauptsächlich von Deutschen, da viele deutsche Ligen registriert seien. Von der Bundesliga bis zur sechsten Spielklasse können die Nutzerinnen und Nutzer alle Partien zu seiner Statistik zusammenfügen.
Florian muss dafür nur seine Standort-Funktion auf dem Smartphone aktivieren und auf die App tippen. Ein kleines Fenster ploppt auf und er wird gefragt, ob er zu dem jeweiligen Spiel einchecken will. Klickt er auf „Ja“, ist ein weiterer Ground in der App erfasst. Seine Freunde erhalten auf ihrem Handy dann eine Push-Benachrichtigung und können einsehen, wo Florian gerade Fußball guckt. Auch das hat er schon 171 Mal gemacht.
„Das ist aber noch gar nichts. Es gibt Leute, die sind jedes Wochenende bei fünf, sechs Spielen. Die haben schon in gefühlt jedem Stadion der Welt Fußball geguckt.“ Dagegen sei er ein Anfänger. Die „Reiseziele“ jeder Userin und jedes Users sind auf einer Weltkarte eingetragen, die für die jeweiligen Followerinnen und Follower freigeschaltet ist.
Groundhopper sammeln Länderpunkte
Auf Florians Karte ist das Stadion in Porto, das „Estádio do Dragão“, der am weitesten entfernte Punkt von seiner Heimatstadt Rheda-Wiedenbrück in Ostwestfalen. Für jedes Land, das die Groundhopperinnen und Groundhopper besuchen, erhalten sie einen Länderpunkt. In zwölf verschiedenen Ländern hat Florian bereits Fußball geguckt. Sein Lieblingsstadion liegt in Italien: „Das Guiseppe-Meazza-Stadion in Mailand ist das schönste, das ich gesehen habe. Es ist riesig und mit Inter und AC Mailand spielen zwei der traditionsreichsten italienischen Mannschaften darin.“
Florians Touren sind teuer. Er macht eine Ausbildung zum Industriekaufmann, monatlich gibt er etwa achtzig Prozent seines Gehaltes für sein Hobby aus. Auch wenn Florian es nicht verraten möchte, dürften es etwa 500 Euro sein. Ohne ein monatliches Einkommen könnte er sich seine Leidenschaft kaum leisten. Kein Wunder, bei 112 Spielen, die seine App allein in diesem Jahr erfasst hat – macht im Schnitt alle drei Tage eine Partie.
Auf Rang eins der Stadionliebhaberinnen und -liebhaber steht eine Deutsche. Laut „Groundhopper Live Fußball“ hat sie in 167 Ländern Fußballspiele gesehen. „Die ist absolut krank“, kommentiert er. „Die muss fast jedes Wochenende in einem anderen Land Fußball gucken.“ Ihm sei es nicht wichtig, in der App die höchsten Werte zu erzielen. Aus seiner Sicht ist das Ganze „etwas blöd gesagt, ein digitaler Schwanzvergleich.“
https://www.instagram.com/p/BpAIJMLlhgn/
Florian geht es darum, Fußballgeschichte mitzuerleben. England und der Goodison-Park des FC Everton haben es ihm besonders angetan. Das Stadion ist klein, weil es mitten in einem Wohngebiet gebaut ist. „Das war der Hammer“, sagt Florian. „Wir saßen fast unter dem Dach. Immer wenn das Spiel spannend wurde, standen die Fans vor mir auf.“ Dann klapperten Hunderte der Sitzschalen.
Instagram als digitales Sammelalbum
„Ich musste immer aufpassen, dass ich mir nicht den Kopf am Stadiondach stoße.“ Um solche Erinnerungen festzuhalten, postet er seine Fotos auf Instagram. Er fotografiert Fanchoreografien, Eingangsschilder oder einfach das, was ihm in dem Moment so auffällt. Heute in der Glück-auf-Kampfbahn ist das ein alter Wagen der Biermarke Stauder, der verlassen hinter einem Tor auf der Asche steht. Auf der Seite prangt das Wappen von Teutonia Schalke: Der rot ausgefüllte Kreis, aus dem sich ein DJK-Schriftzug in alter Schriftart absetzt. An dem Wagen blättert die Farbe ab, die Kronkorken auf dem Boden sind verrostet, die Aufschrift ist nicht mehr zu erkennen.
https://www.instagram.com/p/Be2mn7tFjcs/
Für Florian passt das ins Bild des vergangenen Ruhms der Glück-auf-Kampfbahn. Anfangs hat er nur Bilder gepostet, jetzt schreibt der Fußballfan kleine Geschichten zu den einzelnen Stadien: entweder eine Zusammenfassung des Spielgeschehens oder etwas über die Geschichte des Grounds.
Ruhrgebiet ist für Groundhopper “ein echtes Paradies“
Die Partie in der Glückauf-Kampfbahn plätschert vor sich hin. Arminia Ückendorf geht in Führung, erst als der Stürmer der Schalker knapp am Tor vorbeischießt, erwacht einer der Zuschauer zum Leben: „Kerr, mach die Pille rein, Junge! Sieh zu, dass du nach dem Spiel schnell nach Hause kommst. Warte, bis ich dich erwische!“ Florian lacht. „Genau das gehört zum Fußballgefühl im Ruhrgebiet. Hier ist die Verbindung zum Fußball noch ganz anders als zum Beispiel im Süden.“ Im Pott gebe es auch mehr alte Stadien. „Für Groundhopper eigentlich ein echtes Paradies.“
Zum Schluss eine „Abpfiff-Zigarette“
Seine Touren durchs Ruhrgebiet führten ihn bereits nach Dortmund, Wattenscheid und Essen. Dabei hat er viele andere Groundhopperinnen und Groundhopper kennengelernt. „Groundhopper sind eine Community. Wir unterstützen uns gegenseitig, wenn wir zum Beispiel auf der Suche nach Eintrittskarten sind.“ Wenn man keine Kontakte habe, sei es schwierig, Tickets zu ergattern.
In der Glückauf-Kampfbahn ertönt der Schlusspfiff. Endstand: 2:2. Florian steht auf. Die alten Holzbänke knarzen. Langsam stapft er die Treppenstufen der Tribüne runter und lässt den Blick noch einmal über das Spielfeld schweifen.
Unten angekommen, stehen die ersten Spieler im Eingangstunnel und rauchen eine „Abpfiff-Zigarette“. Wieder steigt der Qualm in die Nase. Florian geht an den Spielern vorbei durch das Eisentor vor das Stadion und bleibt stehen. „Sowas gibt’s auch nur in der Kreisliga“, er nickt zu den Mitgliedern der beiden Mannschaften, die sich bei Kippe und Bier unterhalten.
Dann zückt Florian wieder das Handy – das obligatorische Abschiedsfoto für seinen Instagram-Account. Eines der nächsten postet er wahrscheinlich wieder aus England.
Beitrags- und Teaserfotos: Ingo Hinz