Es ist früh morgens. Wir treffen uns draußen vor dem Uni-Café Chaqwa. „In der Sonne lieber nicht, macht schnell müde“, sagt Hans Stang, 91 Jahren und ältester Student der TU Dortmund.
Er bittet mich laut zu sprechen und beugt sich zu mir vor. Er selbst redet leise und bedacht. Aber als er beginnt, aus seinem Leben zu erzählen, hebt sich seine Stimme plötzlich und seine graublauen Augen strahlen.
Sie waren Arzt, haben sich im Ruhestand entschlossen, Musikwissenschaften zu studieren. Mittlerweile sind Sie im 52. Semester. Haben Sie noch vor, einen Abschluss zu machen?
Bachelor, Master, noch einmal promovieren? Das habe ich nicht vor. Das war nie mein Ziel, obwohl ich in den ersten Jahren viele grundlegende Fächer besucht habe: Gehörbildung, Formenlehre, Harmonielehre. Für einen richtigen Abschluss würden mir aber noch einige Pflichtveranstaltungen fehlen. Ich bin nicht hier, um am Ende ein Zeugnis in der Hand zu halten. Ich studiere, um mir das zu holen, was ich mein ganzes Leben schon brauche: Geistige Betätigung. Aber vor allem bin ich an der TU, um mich meiner größten Leidenschaft zu widmen, der Musik.
Wenn Musik ihre größte Leidenschaft ist, warum haben Sie dann erst Medizin studiert?
Früher haben Kinder die Betriebe ihrer Eltern übernommen, das war üblich. Mein Vater war Arzt, hatte eine eigene Praxis und so bin ich in seine Fußstapfen getreten. Ich war 20 Jahre alt, da wurde die Deutsche Mark eingeführt. Vieles war im Schwanken und mit dem Beruf des Mediziners hatte ich gute Aussichten auf eine sichere Existenz.
In Ihrem Alter könnten sie jetzt einfach das Leben genießen – warum haben Sie sich für den Hörsaal entschieden?
Als ich in den Ruhestand gegangen bin, habe ich meine Arztpraxis abgegeben und einen richtigen Schnitt gemacht mit der Medizin: Ich habe keine nachträglichen Sprechstunden gegeben, keine Patienten weiter betreut oder private Hausbesuche gemacht. Erst entstand eine große Lücke. Die zu füllen, war nicht einfach, aber mit dem neuen Studium an der TU ist es mir gelungen. Ich wohne in Castrop-Rauxel, also habe ich mich am Institut für Musik in Dortmund eingeschrieben, 1993 war das.
Sie sind im 52. Semester, haben Ihr Studienfach nie gewechselt. Wird das nie langweilig?
Mir war noch nie langweilig. Im Bereich Musik gibt es immer ein riesiges Angebot. Ich besuche die Seminare, die mich am meisten ansprechen, suche mir die Perlen heraus. Klar, manches wiederholt sich, zum Beispiel das Schostakowitsch-Seminar, das habe ich vor 24 Jahren schon einmal besucht, damals aber bei einem anderen Dozenten. Jeder setzt andere, eigene Schwerpunkte. So bleibt es immer interessant und ich lerne nie aus, nur dazu.
Hat sich in den vergangenen 26 Jahren an der Uni viel verändert?
Was sich leider nicht geändert hat, ist die Distanz zwischen mir und meinen Mitstudenten. Der Kontakt war nie so, wie ich es mir gewünscht hätte. Das ist sehr schade und manchmal auch unschön, aber der Altersunterschied ist wohl zu groß. Wenn ich die jungen Leute anspreche, dann reden die schon mit mir, aber so richtig integriert bin ich leider nicht.
Es gibt mehrere Seniorstudierende. Wie sieht es mit denen aus?
Mit denen habe ich nicht wirklich viel zu tun, obwohl wir einige sind. In manchen Seminaren sitzen an die 15 von uns älteren und nur drei oder vier jüngere Studenten. Das ist für den Dozenten natürlich nicht so schön. Der gibt sein Seminar ja nicht für uns Alte, sondern für die jungen Leute. Bei Fragen sagen manche Lehrende deshalb sogar ‚Ich möchte, dass die Senioren sich jetzt kurz raus halten’. Ich verstehe das. Wir haben mehr Erfahrung und bringen Wissen mit, das unsere jüngeren Kommilitonen*innen noch nicht haben können.
Trotzdem sind Sie immer noch an der TU?
Ich brauche die geistige Anregung durch das Studium. Das brauche ich so, wie der Jogger täglich seine zehn Kilometer laufen muss. Jedes Semester sammle ich Anregungen und nehme neue Erfahrungen mit. Ich bereite mich auf meine Seminare vor und arbeite sie auch nach, so detailliert, dass ich jede Sitzung wiedergeben könnte. Das mache ich gerne, obwohl ich oft müde bin, das ist mein Alter. Sobald ich aber am Schreibtisch sitze und irgendwas für die Uni mache, ist meine Müdigkeit wie weggeblasen. Da kommt es vor, dass ich um halb zehn abends beginne und plötzlich ist es halb eins.
Was sagt ihre Familie zu ihrem Engagement?
Alle finden es gut, dass ich nicht nur zu Hause sitze und mich langweile. Meine Frau begeistert sich auch sehr für Musik und zwei meiner Söhne spielen Klavier, der eine zusätzlich noch Saxophon und Klarinette.
Wenn sie sich jedes Mal einarbeiten und die Seminare auch nacharbeiten, dann verbringen Sie sicher viel Zeit in der Bibliothek.
Nein, zu jedem Seminar kaufe ich mir die passende Literatur und beschäftige mich zu Hause damit. Ich kann die Bücher natürlich ausleihen, aber das ist mir zu kompliziert. Da brauche ich einen Uni-Account und darf in den Texten nichts markieren. Das ist nichts für mich. Wenn ich über einem musikwissenschaftlichen Buch sitze, da muss ich ankreuzen können und das geht eben nur in einem eigenen Buch. Mittlerweile habe ich für mein Studium in Dortmund schon an die 1000 Stück gekauft. Das sind acht Ikea-Regale voll. Die kann ich gar nicht alle mitnehmen, wenn ich mal in ein Seniorenheim umziehe. Eine schreckliche Vorstellung, wenn nicht die schlimmste überhaupt für mich.
Viele Informationen und Texte können Sie im Internet finden. Was halten Sie davon?
Vom Internet? Ich habe nichts dagegen. Es ist sehr nützlich. Zum Beispiel habe ich auf YouTube eine Klavierübung von mir hochgestellt. Und ich verschicke gerne meine Musik darüber. Ich habe ein Aufnahmegerät, das steht direkt neben meinem Flügel. Und wenn was richtig gut klingt, nehme ich mich auf und schicke es per Mail an meine Kinder.
Eigentlich habe ich fast immer ein Klavier irgendwo in der Nähe
Haben Sie sich schon vor ihrem Studium an der TU mit Musik beschäftigt?
Seit ich denken kann, spiele ich Klavier. Ich habe damit als kleiner Junge begonnen und von da an hat mich die Musik nicht mehr losgelassen. Zum Beispiel beim Heer, als ich 16 war, da sollte ich in der Küche Kartoffeln schälen. Statt sie zu schälen, habe ich sie in vier große Würfel geschnitten und wurde von unserem Offizier angesprochen: „Was machen Sie denn da? Da bekommen Sie drei Tage Bau für. Was können Sie denn überhaupt?“ Ich: „Klavier spielen.“ Von da an war ich vom Kartoffelschälen befreit und musste jeden Tag ans Klavier. Das war der erste Vorteil, den ich durch Musik hatte.
Und später?
Als ich ein junger Mann war, bin viel herumgekommen, was damals nicht selbstverständlich war. Ich habe in verschiedenen Städten studiert, unter anderem in München, Münster und Köln. Danach kam die weiterführende Ausbildung in vielen verschiedenen Krankenhäusern. Musik war mir auch in dieser Zeit wichtig. Ich habe sogar ein Semester zusätzlich das Fach Musik belegt und war lange im Studentenorchester. Später, als Assistenzarzt, hatte ich dann ein Spinett in der Klinik stehen. Das ist nicht ganz so laut wie ein Klavier. Eigentlich habe ich fast immer ein Klavier irgendwo in der Nähe.
Klavierspiel, Musikhören oder das Reden über Musik, was ist ihnen am wichtigsten?
Klavierspielen ist mir am wichtigsten. Ich könnte eher auf das Studium verzichten als auf das Klavierspiel. Jeden Morgen, meistens noch im Bademantel, setzte ich mich an den Flügel. Was ich spiele, weiß ich erst noch nicht. Anfangs sind da nur ein paar Töne mit der rechten Hand. Bestenfalls wird daraus ein Thema und eine Begleitung mit der linken Hand kommt dazu. Wenn ich in Form bin, quillt es nur so aus mir heraus. Das ist der Zauber der Musik. Vor Jahren hatte ich noch eine Jazzcombo, in der habe ich den Pianisten gemacht. Heute habe ich leider keine Möglichkeit mehr, mit anderen zu spielen. Manchmal noch mit meinem Sohn. Meistens bin ich aber Solist, spiele für meine Frau. Die ist sehr kritisch und sagt schon mal ‚Heute, das war nichts’. Aber meistens, da hört sie gerne zu.
Beitragsbild: Simon Jost