Rap, Feminismus – alles schon mal dagewesen. Wir haben Shakespeare 400 Jahre danach gelesen. Selbst das ist schon mal dagewesen. Die Form ausgeliehen von Kraftklubs „Zu Jung“. So ist mittlerweile alles. Wer denkt sie oder er sei originell, muss nur einmal seine alten Schullektüren entstauben. Irgendein Klassiker, aus irgendeiner Zeit, von irgendeinem Autor wird die Worte, die Form, die Idee schon in sich haben. Auf Papier gebracht.
Etwas Neues zu schreiben, funktioniert schlichtweg nicht mehr. Etwas Neues zu schreiben, besteht mittlerweile nur noch daraus sich eben Worte, Formen und Ideen zu leihen und umzustellen. Genau deshalb sind Literatur-Klassiker bis heute von Bedeutung. Weil sie damals etwas Neues waren. Weil die Themen immer wieder von Aktualität sind. Weil sie heute als Vorlage für etwas „Neues“ dienen. Macht, Materialismus – alles schon mal dagewesen. Wir haben Goethe 200 Jahre danach gelesen…
Goethe als Rapper
Wenn eine Rapperin oder ein Rapper Zeile über Zeile reimt und in ihrem oder seinem Flow bleibt, wird in die Hände geklatscht und die Person wird in den Himmel gepriesen. Doch wenn Goethe in „Faust. Der Tragödie erster Teil“ über knapp 150 Seiten im Paarreim schreibt, werden die Augen verdreht und der Stoff wird als langweilig betitelt.
Der Inhalt sei zu schwer. Die Sprache zu anspruchsvoll. Und generell sei Faust voll das Opfer. Dass hinter den Zeilen jedoch mehr steckt als die simple Story, wird vergessen. Und dass der Hype um das Stück bis heute nicht wegen der Geschichte besteht, sondern wegen der Aufmachung und der ständigen Aktualität, wird nicht gesehen.
Nicht ohne Grund zählt es in der Hip Hop-Szene als totaler Flex, wenn eine Rapperin oder ein Rapper einen Reim nach dem Anderen droppt. News: Goethe hat das bereits vor 200 Jahren geschafft. Benutzt den gegensätzlichen Kreuzreim sogar noch als stilistisches Mittel, um Chaos in der Walpurgisnacht darzustellen. Meine Güte man muss den Typen nicht einmal mit Vornamen nennen, wenn wir schon von Flex reden. Rap ist also nichts Neues, sondern lediglich die Weiterentwicklung von Gedichten und Literatur.
Wie viel ist Kellers Outfit wert?
Der Rapper Kummer hat zuletzt in seinem Song „Wie viel ist dein Outfit wert“ die Materialisierung der Gesellschaft kritisiert. Gerade durch Soziale Medien und dessen Oberflächlichkeit sind Äußerlichkeiten wichtiger denn je. Influencer machen ihr Geld damit, Marken in die Kamera zu halten und ihre neuesten Fashion-Trends vorzustellen.
Hast du die neuen Yeezys, bist du der König auf dem Schulhof. Kannst du dir eine Jogging-Hose für absurde 80 Euro nicht leisten, bist du nicht cool genug, um mit den Hype-Beasts an einem Tisch zu sitzen. „Life ist super nice, da wo man die Schuhe trägt. Life ist nicht so nice, da wo man die Schuhe näht”, um die Worte von Kummer zu leihen. „Kleider machen Leute“, um die Worte von Gottfried Keller zu leihen.
Er hat das gleiche Phänomen wie Kummer bereits 1874 in seiner Novelle beschrieben, nur dass er von Schneidern und Grafen schreibt, anstatt von Opfern und Hype-Beasts. Sein Ansatz, dass man mit Äußerlichkeiten und vor allem Mode viel erreichen kann und das Aussehen wichtiger ist als die inneren Werte, ist topaktuell in einer Welt mit täglich wechselnden Trends und der boomenden Modeindustrie.
Die Fälschung durch Mode in Kellers Novelle ist ebenfalls ein Spiegel der heutigen Gesellschaft. In dem Klassiker kann sich ein Schneider durch Mode als Graf ausgeben. Heute kann sich ein unbeliebter Mensch durch die neuesten Trends schnell beliebter machen. Auch wenn es wenige sagen würden, machen Kleider noch im 21. Jahrhundert Leute. Und das kritisieren Künstler. Genau wie Keller es im 19. Jahrhundert getan hat.
Aushänge-Feministin Austen
Ein weiteres Thema auf der Gesellschafts-Agenda ist das große Wort Feminismus. In Majuskeln und alarmrot geschrieben. Dreimal unterstrichen. Und in Neon markiert. Was Frauen machen sollen und dürfen. Ob Männer nun über sie entscheiden dürfen oder nicht. Feminismus und Frauenrechte werden bis oder gerade heute heiß diskutiert.
Auch Künstler behandeln das Thema häufig in Musik, Bild und Text. Trotzdem zählen Romane mit machtgierigen Männern als eines der beliebtesten Genres. Christian Grey wurde als unwiderstehlich dargestellt, obwohl er die Frau, die er angeblich liebt, unterdrückt, nicht nur sexuell sondern auch in jeglicher anderer Hinsicht. Dass Frauen keine Objekte sind, wird noch immer diskutiert und von einigen Menschen nicht verstanden. Jane Austen hat das hingegen schon vor 200 Jahren herausgefunden.
In ihren Romanen ist die Idee von Feminismus, auch wenn es damals noch nicht den Namen hatte, manifestiert. Elizabeth Bennet aus „Stolz & Vorurteil“ wird beispielsweise als junge, kluge Frau beschrieben. In einer Gesellschaft, in der die Heirat mit einem wohlhabenden Mann wichtiger als alles andere ist, wagt sie es, ihr eigenes Glück und Wohl an erste Stelle zu stellen. Die gesellschaftlichen Regeln sind ihr weniger wichtig als ihre eigenen Werte. Familie, Anstand und Spaß. Als der reiche Darcy meint sie durch einen unhöflichen Antrag heiraten zu können, sagt sie nein. Sie lässt sich nicht durch sein Geld kaufen und zeigt ihm ordentlich die Stirn.
Austen hat also eine Protagonistin geschaffen, die mehr kann als hübsch auszusehen und ja und Amen zu sagen. Eine Protagonistin, die in der heutigen Gesellschaft noch immer hinterfragt oder belächelt wird. Eine Protagonistin, die stets aktuell bleibt, solange Feminismus noch immer in Majuskeln und alarmrot auf der Gesellschafts-Agenda steht.
Die Shakespeare-Erfolgs-Formel
Zu guter Letzt muss natürlich noch über Shakespeare gesprochen werden. Die einen lieben ihn, die anderen verdrehen schon beim Sh… die Augen, doch welche Bedeutung und kontinuierliche Aktualität sein Werk hat, zeigt ein Blick auf erfolgreiche, kontemporäre Filme und Serien.
Ein machtsüchtiger Mann tötet seinen herrschenden Bruder und schickt seinen Neffen ins Exil, um die Macht zu ergreifen. Da klingelt doch was. „König der Löwen“? Oder eigentlich „Hamlet“? Eine Frau verkleidet sich als Mann, um sich in einem durch Männer dominierten Milieu zu beweisen und verliebt sich währenddessen… „She‘s the Man“? Oder „Wie es euch gefällt“. Und mit den etlichen Liebesfilmen, die auf der tragischen sowie romantischen Geschichte von „Romeo & Julia“ basieren, fange ich erst gar nicht an. Allen voran, das Musical „West Side Story“.
Die Liste geht immer weiter, denn Shakespeare (er braucht übrigens auch keinen Vornamen – Flex!) hat Inhalte geschaffen, die immer zu den momentanen gesellschaftlichen Geschehnissen passen. Denn seine Werke handeln von Macht, Liebe und Gier. Er hat Inhalte geschaffen, die so tiefgreifend sind, dass sie immer wieder neu und anders adaptiert werden können. Er hat vor 400 Jahren Inhalte geschaffen, auf dessen Basis immer wieder Neues geschaffen werden kann.
Seine Forme, Worte und Ideen werden häufiger ausgeliehen und umstrukturiert als von sonst irgendwem. Und deshalb lesen und schauen wir noch heute seine Werke, während die Romane von E.L. James („Fifty Shades of Grey“) schon nach 7 Jahren ihren Hype verloren haben.
Literatur-Klassiker sind geil!
Goethe, Keller, Austen und Shakespeare sind nur einige offensichtliche Beispiele an Autoren, die Werke von immer wiederkehrender Aktualität geschrieben haben. Ihre Themen werden immer wieder neu aufgegriffen und deshalb funktionieren Literatur-Klassiker noch immer. Und auch wenn die Sprache in den meisten Fällen veraltet ist, sollte das nicht davon abschrecken sie zu lesen. Es sollte viel eher dazu führen, dass man sie liest, um kontemporäre Werke besser verstehen zu können. Sprache ist im Endeffekt auch ein Attribut von Geschichte. Literatur-Klassiker zu lesen macht Spaß, wenn man die Augen dafür offen hält, wie aktuell sie eigentlich sind. Zusätzlich ist es total cool, wenn man etliche Anspielungen auf Klassiker in der Lieblingsserie oder dem neuen Blockbuster versteht. Oder wenn man sieht, welche Worte, Formen und Ideen ausgeliehen und umstrukturiert wurden. Liebe, Hype-Beasts – alles schon mal dagewesen. Wir haben Austen 200 Jahre danach gelesen…
Beitragsbild: DariuszSankowski/Pixabay