In meinem Leben habe ich schon so einige Herausforderungen gemeistert. Ich habe Tütensuppe gegessen, im Garten gezeltet und im Sportunterricht einen Salto gemacht. Nun ja, fast zumindest. Doch der heutige Job stellt alles Bisherige in den Schatten: Ich trete meinen Dienst als Spargelstecher auf dem Hof Sanders in Castrop-Rauxel an. „Eine Schicht geht so lange, bis sie fertig ist“, hat mir Chef Jens Sanders am Telefon erzählt – nein – gedroht.
Viele Stunden am Tag in der Sonne hocken, sieben Tage in der Woche: normalerweise Jahr für Jahr der Job von vielen zehntausend Erntehelfern aus dem Ausland. Sie verdienen hier den Mindestlohn und kümmern sich darum, dass wir Deutschen unser Heiligtum frisch und pünktlich auf den Teller bekommen: den Spargel. 1,7 Kilo isst jeder Deutsche durchschnittlich pro Jahr. Doch in diesem Jahr durften viele Erntehelfer wegen der Coronakrise nicht nach Deutschland einreisen. Die Landwirte mussten auf Ersatz zurückgreifen: Rentner und Menschen, die durch Corona arbeitslos geworden sind. Auf Seiten wie „Das Land hilft“ können Menschen ihre Hilfe anbieten, darunter sind auch viele Studierende. Er freue sich über die Solidarität, erzählt Jens, doch viele Studierende würden die harte Arbeit oft nicht länger als ein paar Tage durchhalten.
“Ein guter Spargelstecher, der ist da in einer Viertelstunde durch!”
Den Ruf der Studierenden will ich heute retten: 20 Jahre alt. 1,87 Meter groß. 68 Kilo schwer. Mit Jeans, T-Shirt und leichter Jacke bewaffnet. Die Wanderschuhe habe ich seit mehr als zwei Jahren nicht mehr aus dem Schrank geholt – heute dürfen sie auf steinig-holprigem Erdboden knarzen und über trockenes Unkraut schleifen. Schon bevor mir mein Kurzzeit-Chef Jens Handschuhe, Korb und Spargelmesser in die Hand drückt, fange ich an, zu schwitzen. Es sind knapp 20 Grad, aber die Sonne prallt auf meinen Schädel. „So schwer kann das doch nicht sein“, denke ich mir, bis wir nach kurzem Fußmarsch auf dem Spargelfeld angekommen sind. Eine Reihe hat gut 200 Meter, viele Reihen sind mit einer schwarzen Folie abgedeckt, damit der Spargel zwar Wärme, aber kein Licht abbekommt und sich unschön verfärbt.
„Ein guter Spargelstecher, der ist da in einer Viertelstunde durch“, sagt Jens mit einem Lächeln auf den Lippen. „Das ist ‘ne Marke“, antworte ich lachend. Warum ich lache, weiß ich nicht. Wahrscheinlich, weil ich schon weiß, dass ich an dieser Zeit scheitern wäre, ohne überhaupt angefangen zu haben. Jens zeigt mir, wie ich den Spargel ernte. Zuerst lüften wir die Plane und schauen, ob aus dem sogenannten Spargeldamm, also einem gut 30 Zentimeter hohen, durchgängigen Erdhügel, eine Stange herausschaut. Oft sind es nur wenige Millimeter, aber das muss ich sehen, wenn ich Erfolg haben will.
Ich grabe in die Erde – dann macht es “Knack”
Dann gräbt Jens mit zwei Fingern in die Erde rund um die Stange hinein. Schaufeln sind tabu, mit ihnen könnten wir die Pflanzen verletzen. Jetzt kommt das 15 Zentimeter lange, leicht gebogene, stählerne Messer zum Einsatz. Am Schneideende ist es in V-Form gezackt. Jens sticht in die Erde hinein und schneidet mit einem dezenten Hebeln die Spargelstange ab. Wie, und das war’s schon? Jens legt die Stange in einen der kleinen Fahrradkörbe, die hier überall zum Ernten herumliegen, und schüttet das Loch in der Erde wieder zu. Nichts Spektakuläres, denke ich mir. Aber trotzdem: So viel Aufwand, so viel Handarbeit für eine einzige weiße, krumme Stange?
Jetzt darf ich ran. Ein paar Meter die Reihe entlanglaufen, Plane hochziehen. Spargelstechen ist zwar Arbeit im Akkord, aber keine Fließarbeit: Die Stangen lassen sich nicht dicht an dicht ernten, sondern liegen mal vier, fünf Meter voneinander entfernt, mal nur zwei, drei Zentimeter. Meine erste Spargelstange. Mit meinem rechten Zeige- und Mittelfinger grabe ich vorsichtig ein Loch, um die Stange für den Schnitt freizusetzen. Mit meinem rechten Mittelfingerknöchel macht es sehr laut „Knack“. Die Stange ist abgebrochen, der Worst-Case. Denn das abgebrochene Stückchen kann nur noch als billiger Bruchspargel verkauft werden. Muss sich so ein Elefant im Porzellanladen fühlen?
Erntehelfer: Kein Feierabend am Freitagmittag
Bei meiner zweiten Stange läuft es besser. Ich setze mit dem Spargelmesser vorsichtig am unteren Ende der Stange an und lege beide Hände auf den Halteknauf des Messers. Mit meinem ganzen Körper belaste ich nach und nach das Messer. Ich spüre, wie die V-Klinge langsam in die faserige Stange eindringt, höre die Fasern reißen. Dann ist der Widerstand plötzlich weg. Die Stange ist durchtrennt und ich kann sie aus der Erde herausziehen. Meine erste geerntete Spargelstange! Nun ja, eine Schönheit ist sie nicht gerade, verdreckt und krumm lasse ich sie langsam über meine Finger rollen, so dass sie in den Fahrradkorb fällt. „Das sah doch schon echt ganz gut aus“, sagt Jens und ich vermute, dass er aus Höflichkeit lügt.
Ein guter Spargelstecher hätte bereits jetzt die 200 Meter lange Reihe komplett durchgearbeitet. Der Job ist hart. „Da muss man Bock drauf haben“, sagt Jens. Die Stecher starten meist um 6 Uhr morgens – an heißen Tagen auch früher – und arbeiten solange, bis der erntereife Spargel des Tages geerntet ist. Manchmal gehen die Schichten bis 17 oder 18 Uhr. „Da gehst du auch abends nicht mehr zum Sport oder hast Lust auf Shoppen.“ Ein wirkliches Wochenende gebe es nicht, der Spargel höre ja am Freitagmittag nicht auf, zu wachsen.
Jetzt lässt mich Jens alleine auf dem Feld. Kaum ist er weg, hole ich erst einmal meine Wasserflasche aus dem Rucksack. Gegen Mittag steigt die Hitze, Sonnencreme wäre eine gar nicht mal so schlechte Idee gewesen. Zweieinhalb Hektar Spargelfelder gehören zum Hof Sanders, verteilt auf zwei Felder. Auf über 1.600 Spargelhöfen in Deutschland wird gerade geerntet, traditionell läuft die Ernte bis zum 24. Juni.
Handarbeit macht glücklich – meine Leistung nicht
Auf einem davon stehe ich und fühle mich gar nicht mal so systemrelevant. Mein Rücken ist nass geschwitzt, mein Spargelkorb fast leer – und jetzt fängt auch noch der Trecker an, mit lautstarkem „Piep, piep, piep“ seine Runden zu drehen. Hundert Meter entfernt verläuft eine Landstraße, wo sich die LKW an der Ampel stauen. Ich verdränge den Gedanken, wie die Fahrer aus dem Fenster schauen und mir amüsiert bei dem zuschauen, was professionell „Ernten“ heißt. Bei mir ist es eine Mischung aus Stöhnen, Bücken, schwerem Ausatmen und ab und zu mal eine Stange aus der Erde ziehen. Immerhin: Die Technik habe ich nach einiger Übung raus. Suchen, graben, stechen, Loch zumachen. Je mehr der Korb sich füllt, desto mehr Freude macht es, die nächste Stange zu ernten. Ich sehe, was ich mit meinen eigenen Händen gearbeitet habe – und das ist ein schönes Gefühl.
So wie ich haben viele Leute bei Höfen in NRW ihre Hilfe angeboten. Doch ohne Erfahrung ist es schwierig, eine Leistung zu erbringen, die sich auch wirklich lohnt. Das sagt mir auch Maximilian Schulze Neuhoff vom gleichnamigen Erdbeerhof aus Fröndenberg. Er ist zwar dankbar für die vielen Hilfsangebote, die eingegangen seien, aber viele Studierende seien sich für die Arbeit als Erntehelfer zu fein. „Wir können uns das wegen der Pflückleistung einfach nicht leisten.“ Wenn die Erntemenge zu gering sei, „dann zahlen wir am Ende drauf, das brauchen wir gar nicht erst zu machen“.
Knie, Rücken, Füße – “Aua”
Während der Zeit wechsle ich permanent zwischen „Bücken“ und „Hocken“, denn viel länger als ein paar Minuten halte ich die eine Position nicht aus, abwechselnd tun mir Knie, Rücken und Füße weh. Als ich mich nach längerer Zeit mal wieder richtig aufrichte und den Rücken strecke, vermischt sich das Knacken der Knochen meines Körpers mit dem „Piep, piep, piep“ des Treckers. Ich muss niesen, Pollen fliegen durch die Luft, mit verschwommenen Augen sehe ich die Luft in zwanzig Metern Entfernung vor Hitze gleichmäßig, fast schon beruhigend vor sich hin flimmern.
Das Phänomen kenne ich vom Grillen. „Kantine gibt’s hier nicht“, hat mir der Chef vorher noch zugerufen. Wäre ja auch zu schön. Stattdessen muss ein Müsliriegel herhalten. Ich habe das dringende Bedürfnis, mich einfach mal hinzusetzen. Hocker gibt es hier nicht, vielleicht hätte ich mir einfach meinen eigenen Campinghocker mitnehmen sollen? Meine Beine zittern leicht, die permanente Anspannung macht mir als Ungeübtem zu schaffen. Einfach auf den dreckig-staubigen Feldboden setzen? Klar ginge das, denke ich mir, erwische mich aber gleichzeitig bei dem Gedanken, dass dann meine Jeans dreckig werden und Käfer auf meine Beine krabbeln würden. Da ist es dann doch wieder: Das Sich-zu-fein-Sein eines Studenten, der zwar lange Arbeitstage kennt, den eigenen Körper als Arbeitswerkzeug aber nicht.
Mein Einsatz als Spargelstecher: Verlustgeschäft
Nach insgesamt guten drei Stunden ist für mich Feierabend. Ich richte mich auf und lasse meinen Blick noch einmal durch die Spargelreihen der Sonne entgegen blinzeln. Gut 60 Meter habe ich abgearbeitet, das Doppelte liegt noch vor mir. Ich senke meinen Kopf und blicke in den rostigen Fahrradkorb, der zu meinen Füßen liegt. Zu einem Viertel ist der Korb mit Spargel gefüllt. 20 Tonnen Spargel werden auf dem Hof Sanders in diesem Jahr geerntet werden, deutschlandweit sind es etwa 130.000 Tonnen. Ein knappes Kilo habe ich dazu beigetragen. „Joa“, sagt Chef Jens aufmunternd, „das kann man alles verkaufen“.
Einen Teil des Spargels darf ich mit nach Hause nehmen, den anderen Teil verkauft Jens direkt frisch auf dem Hof. Gut 10 Euro würde er mit der Menge einnehmen, verrät er. Als regulärer Erntehelfer würde ich den Mindestlohn von 9,35 Euro pro Stunde erhalten: Für den Landwirt wäre das im Endeffekt ein Verlustgeschäft. Ein guter Erntehelfer schaffe in der Zeit etwa das Zehnfache der Menge. Auch deshalb greifen viele Landwirte – selbst in Coronazeiten – lieber auf Menschen zurück, die Erfahrung haben und nicht erst angelernt werden müssen.
Zurück im Auto kann ich mich das erste Mal seit heute Morgen wieder hinsetzen. Ich mache die Fenster zu und genieße die Stille, die Entspannung. Vor allem das ständige Graben mit den Händen tut mir im Nachhinein weh. Ich bin froh, ab morgen wieder Maus und Tastatur statt Erde, Steinchen und Käfer zwischen den Fingern zu haben. Ich bin froh, wieder zehn Stunden am PC sitzen zu dürfen statt zwölf Stunden in der Hitze auf dem Feld knien zu müssen. Und ich habe vor allem eines zu schätzen gelernt: dass es Menschen gibt, die jeden Tag aufs Neue mit all ihrer Motivation und ihrem Durchhaltevermögen unser Gemüse und Obst ernten. Systemrelevant!
Bildquellen: Leon Pollok