Studieren ohne Fach? Das geht!

“Ich studiere aus Interesse” – das sagen viele Studierende, wenn sie an die Universität kommen. Und trotzdem gibt es in Studienverlaufsplänen immer auch Fächer, die den Studierenden nicht gefallen. Müssen da alle durch? Nein. Im Studiengang “Studium-Individuale” in Lüneburg dürfen die Studierenden aus dem ganzen Kursangebot das wählen, was sie wirklich interessiert und das ignorieren, was ihnen nicht zusagt. Mit diesem Liberal-Education-Ansatz will die Universität Menschen ausbilden, die gesamtgesellschaftlich und innovativ denken – funktioniert das?

Als Melanie 2019 in Lüneburg in der Studienberatung der Leuphana Universität saß, habe sie gemerkt, dass sie keinen spezifischen Fachbereich mehr studieren möchte: “Ich habe zu der Zeit eigentlich noch Erziehungswissenschaften in Frankfurt studiert – es hat mir aber nicht mehr gereicht, Bildung immer begrenzt in unserem Fachbereich zu denken. Ich wollte mehr Innovation.”, sagt sie. Melanie Andre ist 23 Jahre alt und studiert im vierten Semester in Lüneburg den Bachelor Studium-Individuale.

Dieser Bachelor of Arts Studiengang orientiert sich am US-amerikanischen Modell der Liberal-Education – statt eines Fachgebiets sollen die Student*innen lernen, Problemstellungen disziplinenübergreifend anzugehen. Das Studium gibt jedes Semester nur ein Kernmodul vor, das wissenschaftliche Grundlagen unterrichtet. Den restlichen Lehrplan müssen die Studierenden sich selbst zusammenstellen.

“Wenn ich meine Kurse wähle, schaue ich immer erst mal: ‚Worauf hab‘ ich Lust? Was interessiert mich?‘”

Das Studium ist nicht nur “liberal”, sondern auch individualisiert: “Wenn ich meine Kurse wähle, schaue ich immer erst mal: ‚worauf hab‘ ich Lust? Was interessiert mich?‘”, erklärt Melanie. Viele Studierende fokussieren sich dabei auf eine selbst gewählte Problemstellung oder ein Thema. Bei Melanie ist dies die gesellschaftliche Transformation durch Bildung. “Bildung ist das Fundament der Gesellschaft. Beim Studium-Individuale kann ich mir die größeren Zusammenhänge anschauen.” Bis jetzt habe sie ihr Thema schon interdisziplinär mit Kursen aus den Bildungs-, Umwelt- und Politikwissenschaften beleuchtet.

Pure Reproduktion von Wissen reicht nicht mehr

Im Gegensatz dazu sei im deutschen Bildungssystem das fachspezifische Denken Tradition, sagt Frank Dölle vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). “Man wird als Fachwissenschaftler wahrgenommen und nicht als Problemlöser”, beschreibt er die Anerkennungskultur im Bildungsbereich. Dabei seien besonders interdisziplinäre Kooperation und Austausch wichtig: “Das Bildungssystem ist immer noch sehr stark auf die pure Reproduktion von Wissen ausgelegt.”

Dölle hat Volkswirtschaft studiert und arbeitet am DZHW als stellvertretender Leiter der Abteilung Governance in Hochschule und Wissenschaft. “Es ist wichtig, das Thema “gesellschaftliche Verantwortung” in den Lebenslauf eines Studierenden zu integrieren. Hochschule ist ja mehr als die Zuführung von arbeitsfähigen jungen Menschen auf den Arbeitsmarkt”, sagt er.

Generalist*innen werden immer mehr gebraucht

Auch auf dem Arbeitsmarkt sind Generalist*innen noch nicht wirklich anerkannt. Viele Unternehmen würden immer noch nicht über Fachkompetenzen hinausdenken, sagt Petra Barsch. Die studierte Ökonomin und Wirtschaftshistorikerin coacht und trainiert seit 14 Jahren im Bereich Karriereberatung. “In Zukunft braucht es Menschen, die global denken, flexibel sind und kommunizieren können – und vor allem braucht es eine Bereitschaft, sich weiterzubilden.” Sie glaubt nicht, dass es ausreicht, irgendeinen Beruf zu erlernen, um das dann bis zum Lebensende zu machen.

Und der Arbeitsmarkt ist tatsächlich dabei, sich zu wandeln. Laut dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft steht er vor einem “historischen Umbruch”. In den nächsten Jahren gingen die geburtsstarken Jahrgänge in den Ruhestand und würden dabei höchstwahrscheinlich die Zahl der Erwerbstätigen einbrechen lassen. Die Unternehmen müssten sich deshalb vor allem auf einen kommenden Fachkräftemangel einstellen.

Spezialist*innen und Generalist*innen können zusammenarbeiten

Diese Entwicklung birgt aber auch Chancen, sagt Beraterin Barsch: “Es werden sich immer mehr Berufsbilder entwickeln, in denen der Generalist mehr gefragt ist.”

Natürlich brauche es in manchen Bereichen auch Spezialist*innen, aber die beiden Ansätze schließen sich nicht aus. Gerade in Teams von Spezialist*innen könnten Generalist*innen gut koordinieren und zusammenhalten, ohne in eine Konkurrenz zu treten.

Menschen zu problemorientiertem Arbeiten und Reflexionsfähigkeit auszubilden sei Ziel des Studium-Individuale in Lüneburg, sagt Beate Söntgen. Sie ist Major-Verantwortliche des Studiengangs. Das bedeutet, dass sie sich um das Monitoring und die Weiterentwicklung des Studiums kümmert. Für sie ist der Kern des Studiengangs, selbst zu entscheiden, welches Wissen sich die Studierenden aneignen.

Nebenfach: mal dies, mal das

Dazu gibt die Universität durch ihr “College”-Konzept eigenen Angaben nach allen Studierenden im Bachelor die Möglichkeit, interdisziplinär zu arbeiten: Neben dem Hauptfach wählen die Studierenden ein Nebenfach und haben ein Komplementärstudium, um weitere Schwerpunkte zu setzen. Wer im Hauptfach das Studium-Individuale studiert, muss sich im Nebenfach und Komplementärstudium nicht festlegen. Weil Studierende des Studium-Individuale sich auf das ganze Angebot der Universität bewerben könne, gebe es in der Kurswahlphase eine Art “Losverfahren”, sagt Melanie: “Wir bewerben uns immer auf alle Kurse, die uns interessieren.” Die Kurswahlphase sei für Studium-Individuale Studierende immer sehr proaktiv, weil sie in den ersten zwei Wochen alle Kurse, die sie interessieren, besuchen und dann sortieren würden, was sie belegen oder abwählen.

“Wir bewerben uns immer auf alle Kurse, die uns interessieren.”

Um den Studierenden auch im Verlauf des Bachelors eine gemeinsame wissenschaftliche Grundlage zu bieten, gibt es der Hochschule zufolge im Studium-Individuale verpflichtende Kernkurse. Diese behandeln Inhalte von “Culture and Critique” über “Planning & Decision Making” bis hin zur Analyse von “Contemporary Societies”. In den Modulen werden verschiedene disziplinäre Zugänge zu den Themen behandelt und bewertet. Die theoretischen Grundlagen münden in einem Forschungsprojekt, das die Studierenden mithilfe von Tutor*innen entwerfen und in Gruppen durchführen.

Begleitetes Reflektieren

Um die Studierenden bei der Erstellung ihres individuellen Curriculums zu unterstützen, gibt es einmal im Semester sogenannte “Advising-Sessions” – hier reden akademische Mitarbeiter*innen mit den Studierenden über ihre Interessen. Dabei bekämen sie auch die Chance, das letzte Semester zu reflektieren und ihren Studienverlauf zu planen, beschreibt Camilla Cassidy das Advising-Programm. Sie ist seit 2019 die Programmkoordinatorin und für die akademischen Berater*innen zuständig.

Nicht jede*r habe wie Melanie bereits am Anfang ein differenziertes Thema, sagt Cassidy. Das sei auch keine Voraussetzung: “Niemand muss in der ersten Woche entscheiden, welches Thema er oder sie studiert. Das ist etwas, was man aufbaut, Schritt für Schritt und in jedem Semester.” Es sei sogar gewünscht, dass sich das Thema als Reaktion und Reflexion des Studiums immer ein wenig verändert: “Es ist eher ein Findungsprozess als eine Entscheidung, die man am Anfang trifft und dann darauf beharrt, egal was kommt”, sagt Cassidy.

Keine Vorlage

Auch wenn mögliche Berufsaussichten für die Studierenden nicht der Grund für das Studium seien, komme die Frage nach Berufsaussichten im Advising sehr oft, sagt Cassidy: “Ich glaube ein Grund für die Sorge ist, dass es keine Vorlage für den eigenen Weg gibt. Es ist nicht so, als würde man Ingenieurwesen studieren und dann Ingenieur werden.” Deshalb hätten sie Studierende aus den früheren Jahrgängen zurück an die Universität geholt – zweimal im Semester erzählen sie, welche Wege sie eingeschlagen haben und wo sie jetzt arbeiten. Eine ehemalige Studierende arbeite zum Beispiel als Managerin in der Otto-Gruppe, eine anderer mache freiberuflich Workshops für junge Menschen.

Das Studium-Individuale gibt den Studierenden keinen festen Studienweg vor – sie können zwischen vielen verschiedenen Möglichkeiten wählen. Foto: Pixabay /Gerd Altmann

Das Studium an sich lebe von Vorträgen und Interaktion, sagt Cassidy: “Wir versuchen, immer andere Angebote zu entwickeln, damit ganz verschiedene Diskurse entstehen können – quasi wie eine akademische Community.” Neben den Alumni-Vorträgen gebe es eine digitale Plattform mit Studierenden und Ehemaligen, auf der sie sich über das Studium austauschen können.

Typ-Sache

DZHW-Volkswirt Dölle hält den Austausch für wichtig: “Gerade als junger Mensch so ein großes Thema zu finden, dass man auch von verschiedenen Seiten beleuchten kann, ist sehr schwierig.” Sich ein Studium selbst zusammenzustellen, obwohl man in dem System Hochschule noch vollkommen neu ist, erfordere viel Selbstständigkeit. Diese freie Themenfindung sei nicht für jede*n Studienanfänger*in geeignet.

Melanie sieht das ähnlich: “Wir sind Menschen, die außerhalb der normalen Struktur denken wollen und eben auch eine andere Form von Bildung gutheißen. So sind nicht alle. Viele Menschen sagen eher: ‚Das passt doch so, ich gehe einfach den Weg, der vorgetreten ist”. Die Kernmodule seien sehr anspruchsvoll und zeitintensiv: “Wenn man das alles in sechs Semestern schaffen will, gibt es schon starken Leistungsdruck.”, erzählt Melanie. Sie studiert nicht in Regelstudienzeit und findet, dass das bei dem Studium auch nicht der Fokus sein sollte.

Fachfremd sein – Hürde und Chance

Grafik: eigene Darstellung.

Besonders sich mit verschiedenen Fachbereichen auseinanderzusetzen und zu reflektieren, brauche Zeit. “Du wirst halt oft in einen fachfremden Bereich hineingeworfen, aber du lernst, damit umzugehen und das Beste daraus zu machen”, berichtet Melanie. “Der Prof sagt oft: ‚Ja, das hatten Sie ja schon letztes Semester‘ – das ist aber bei mir nicht so.” Gerade am Anfang des Semesters fühle sie sich oft erstmal erschlagen. Dies bessere sich durch den Austausch mit anderen Studierenden.

Diesen Vernetzungsanspruch des Studiums sieht auch Bildungsexperte Dölle als Hürde: “Bei der Komplexität und Verästelung von Wissenschaften ist es teilweise sogar für Wissenschaftler sehr schwer, über den Tellerrand zu schauen”, sagt er. Es brauche auf jeden Fall umfassende Hilfe und Organisation vonseiten der Universität, um mit fachübergreifenden Hürden umgehen zu können. Am Ende seien Hochschulen in erster Linie verpflichtet, den Studierenden einen erfolgreichen Abschluss zu gewährleisten.

Klein und aufwendig

Diese Hürden erkennt auch Major-Verantwortliche Beate Söntgen. Deshalb sei der Studiengang auf 39 Plätze begrenzt: “Die Leuphana ist  eine mittelgroße Universität und wir möchten unseren Studierenden eine gute Seminargröße bieten. Außerdem ist das Studium-Individuale eben sehr betreuungsintensiv.” Um überhaupt zum Studium zugelassen zu werden, braucht es neben dem NC auch genügend Punkte im universitätsinternen Punkte-System. Diese bekommen Studierende durch außerschulisches Engagement, einen Einführungstest und ein Interview, in dem Interessen für das Studium abgefragt werden.

Die Zukunft der Bildung?

Melanie sieht ein großes Potenzial in alternativen Bildungsformen: “Bildung könnte anders sein. Sie könnte mehr darauf ausgelegt sein, zu begeistern und Probleme zu lösen.” In Deutschland gebe es oft eine schwierige Fehlerkultur, in der sich keine*r traue, neue, risikobehaftete Wege einzuschlagen. Das beste Beispiel sei die aktuelle zögerliche Klimapolitik: “Ich glaube, es ist besser, einen Schritt zu viel zu machen und dann noch mal zurückzugehen, anstatt in eine Schockstarre zu verfallen.” Das habe sie auch in ihrem Studium gelernt.

Auch Dölle sieht einen Mehrwert in ganzheitlicheren Bildungsansätzen: “Es wäre wichtig, vielfältige Inhalte zu haben und auch Bildungselemente aus anderen Ländern auszuprobieren, um unsere Gesellschaft weiterzuentwickeln.” Es müsse bei alternativerer Bildung nicht immer ein ganz oder gar nicht geben.

“Es erfordert eine Offenheit von der Universität, sich auf etwas einzulassen, das erst mal wie ein verrücktes Experiment klingt.”

Solche “Liberal-Education”- Ansätze auf Hochschulebene zu entwickeln, erfordere aber einen großen strukturellen Aufwand: “Hochschulen sind aufgrund hoher Studierendenzahlen in vieler Hinsicht ein Massengeschäft und erfordern viel Organisation. Eine Möglichkeit wäre, hochschulübergreifende Angebote zu machen. Das könnte ich mir auch international vorstellen”, sagt Dölle. Dabei sehe er eine Chance durch Onlineangebote, die räumliche Entfernung überbrücken könnten.

Melanie glaubt, dass es noch mehr als Organisation für liberale Bildung braucht: “Es erfordert eine Offenheit von der Universität, sich auf etwas einzulassen, das erst mal wie ein verrücktes Experiment klingt.” Diese Offenheit solle auch von Studierenden eingefordert werden. Außerdem möchte sie selbst zu einem Wandel beitragen. “Ich kann mir gut vorstellen, im Coachingbereich Workshops und Fortbildungen für Lehrkräfte zu machen, um Bildungstransformation in Schulen anzuregen und zu begleiten. Ich hoffe einfach, dass dann auch Begeisterung wieder Teil von Bildung wird.”

Beitragsbild: Unsplash/Magnet.me

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