Pressefreiheit in Russland: Warum Moskauer Studierende unter Hausarrest stehen

“Sie können die Jugend nicht besiegen” – so heißt das YouTube-Video, wegen dem vier russische Studierende derzeit im Hausarrest leben müssen. Veröffentlicht hatten es die Redakteur*innen des Studierendenmagazins Doxa im Januar 2021 anlässlich der Verhaftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny. Ihr Ziel: Studierende über ihre Rechte aufklären. Die Verhaftung der jungen Russ*innen im April zeigt: Der Kreml ist nervös und will die Kontrolle behalten. Doch das Studierendenmagazin macht weiter – und kämpft für mehr als nur die Freiheit der vier Redakteur*innen.

Es ist Mitte April und Anton Romanov ist auf den Weg in den Urlaub. Drei Wochen will der Moskauer Geologie-Student bei einem Freund in Istanbul verbringen. Neben dem Studium ist er für den Newskanal des Studierendenmagazins Doxa zuständig. Er freut sich auf seine geplante Auszeit. Eine Stunde bleibt ihm, um in Mineralnyje Wody umzusteigen, einer Kleinstadt im Süden Russlands. Später wird er von diesem Tag als einen der schlimmsten in seinem ganzen Leben sprechen. Als er beim Zwischenstopp sein Handy einschaltet und etliche verpasste Anrufe sieht, ist ihm noch nicht klar, was dieser Tag für Doxa und die Mitarbeitenden bedeuten wird.

Am 14. April 2021 durchsucht die Polizei die Redaktion des Studierendenmagazins in Moskau. Sie nimmt vier von Romanovs Kolleg*innen fest: Armen Aramyan (1.v. l.) , Natalia Tyshkevich(Mitte), Vladimir Metelkin(3. v. r.), und Alla Gutnikova (nicht auf dem Foto). Zuvor hatten die Beamten bereits die Wohnungen der Vier durchsucht, von zweien sogar die Wohnungen der Eltern.

Ein Video wird zum Verhängnis

Die Polizei nahm die Studierenden wegen eines Videos fest, das sie im Januar 2021 veröffentlicht hatten. Darin informieren sie Studierende darüber, dass die Universität keine*n aufgrund der Teilnahme an Protesten exmatrikulieren darf. Mit dem Video hätten sie laut Staatsanwaltschaft ein Verbrechen nach Artikel 151.2 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation begangen. Es gehe um die “Beteiligung von Jugendlichen an Aktivitäten, die für sie schädlich sein können”.

Seit vielen Jahren kritisiert die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen die Beschränkungen der Pressefreiheit in Russland. Das Land befindet sich auf der Rangliste der Pressefreiheit 2021 auf Platz 150. Reporter ohne Grenzen vergleicht in der Rangliste die Situation für Journalist*innen und Medien in 180 Staaten und Territorien.

Pressefreiheit in Deutschland

Auch Deutschland hat sich die Pressefreiheit im vergangenen Jahr von Platz 11 auf Platz 13 verschlechtert. Die Lage in Deutschland wird nun als “zufriedenstellend” und nicht mehr “gut” bezeichnet. “Gut” ist die höchste Bewertungsstufe. Hauptgrund für die Abwertung sei die Gewalt gegen Medienschaffende in Deutschland im Jahr 2020. Reporter ohne Grenzen zählte mindestens 65 gewalttätige Angriffe gegen Journalist*innen im Land.

Die Platzierung ermitteln sie anhand von zwei Kriterien: Einerseits befragt die Organisation Expert*innen vor Ort. Dazu kommen die ermittelten Zahlen von Übergriffen, Gewalttaten und Haftstrafen gegen Medienschaffende im Kalenderjahr 2020. Immer wieder sind auch junge Journalist*innen und Studierende davon betroffen.

Ulrike Gruska arbeitet für Reporter ohne Grenzen. Ihre Organisation kritisiert regelmäßig das Verhalten Putins gegenüber der Presse. Foto: Charlotte Ernst.

“Seit Wladimir Putins Amtseintritt im Jahr 2000 verschlechtert sich die Lage enorm. Der russische Präsident gilt für uns als einer der größten Feinde der Pressefreiheit weltweit”, erklärt Ulrike Gruska. Sie arbeitet als Pressereferentin für Reporter ohne Grenzen und beschäftigt sich mit Osteuropa und Zentralasien.

Von der Verhaftung seiner Kolleg*innen bekommt Anton während seines Flugs nach Mineralnyje Wody nichts mit. Als er bei seinem Zwischenstopp die vielen verpassten Anrufe entdeckt, ruft er direkt zurück. Erst als er endlich einen Freund erreicht, erfährt er von den Festnahmen: “Ich war geschockt. Bis zum Betreten des Flugzeugs nach Istanbul dachte ich, dass sie mich abfangen. Ich dachte, ich bin der Nächste, der verhaftet wird”, erzählt er.

Trotz der Ereignisse in Moskau konnte Anton Romanov das Land ohne Komplikationen verlassen. Statt Urlaub zu machen, arbeitet er in Istanbul Tag und Nacht für Doxa weiter, um die Außenwelt über die Verhaftungen und weitere Ereignisse zu informieren. Obwohl er nicht gewusst habe, was mit ihm und den Redakteur*innen passieren wird, entschied er sich nach einiger Zeit, in seine Heimat zurückzukehren. “Ich habe mir natürlich Sorgen um die vier gemacht. Doch viel mehr besorgt mich, was es für unser Land bedeutet, wenn Studierende auf einmal festgenommen werden”, erzählt der Doxa-Redakteur.

Pressefreiheit in Russland war früher fortschrittlich

Nicht immer galt Russland als ein pressefeindliches Land. Das russische “Gesetz über die Massenmedien” von 1991 zählte nach dem Zerfall der Sowjetunion zu den fortschrittlichsten in Europa. Es sollte jede Form von Zensur verbieten und die freie Gründung privater Massenmedien garantieren. Doch mehrere politische Ereignisse in und um Russland haben die Regierung dazu verleitet, die Pressefreiheit einzuschränken.

Alena Epifanova beschäftigt sich für den Verein Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik mit der russischen Innenpolitik seit Beginn der ersten Amtszeit Putins im Jahr 2000. Für sie stellen die Proteste in den Jahren 2003 bis 2005 in Georgien und der Ukraine die erste Zäsur dar, die das Verhalten der Regierung prägte.

Das Internet wird interessant für den Kreml

Dort protestierten nach bundesweiten Wahlen zahlreiche Menschen. In Georgien war die Rosenrevolution ausschlaggebend für den Rücktritt des damaligen georgischen Präsidenten. “Dort hat die Regierung in Russland gesehen, dass sich unglaubliche Kräfte verbinden können, wenn Leute auf die Straße gehen”, erklärt Epifanova den Effekt der Proteste für Russland. Die russische Regierung kontrollierte in den 00er Jahren lediglich die staatlichen Fernsehkanäle. Die Kontrolle des Internets war bis dahin zweitrangig, da die Mehrheit der Bevölkerung sich über das Fernsehprogramm informierte.

Alena Epifanova arbeitet für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. Für sie waren die Proteste 2011/12 in Russland ausschlaggebend für die Kontrolle des Internets.  Foto: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Erst Jahre später brachte ein politisches Großereignis den Kreml dazu, das Internet stärker unter staatliche Kontrolle zu bringen. Im September 2011 wählte Russland einen neuen Präsidenten. Obwohl viele Bürger*innen mit dem damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedew zufrieden waren, gewann Wladimir Putin die Wahl.

“Mit Medwedew war eine Hoffnung auf Reformen und mehr Freiheiten aufgekommen.”

Viele Menschen seien frustriert gewesen von der Entscheidung, erzählt Epifanova. “Mit Medwedew war eine Hoffnung auf Reformen und mehr Freiheiten aufgekommen. Da war die Nominierung Putins eine Erschütterung”, erklärt die Russland-Expertin.

Dazu kam, dass sich viele Russ*innen als Wahlhelfende anmelden konnten. Sie konnten so selbst sehen, welche Wahlmanipulationen möglich sind, erklärt Epifanova. Sie hatten nach Putins Wahlsieg das Gefühl, dass es sich um Wahlbetrug handele. Was danach folgte, war für Russland einmalig: “Die Proteste 2011 und 2012 waren nicht nur kleine regionale Demonstrationen. Es waren große Ansammlungen, auch außerhalb von Moskau, für die sich Menschen über das Internet verabredet hatten”, erzählt Ulrike Gruska von Reporter ohne Grenzen. Es waren die größten Proteste in Russland seit dem Ende der Sowjetunion.

Soziale Netzwerke spielen wichtige Rolle

Für Epifanova seien die Versammlungen der Höhepunkt des freien Internets in Russland gewesen. Die Informationen zu Demonstrationen, aber auch zu dem Wahlbetrug verbreiteten sich rasant über soziale Netzwerke. Die Proteste gingen bis in das Jahr 2012, doch die Regierung konnte sie durch ihr hartes Vorgehen beenden. Auch wenn Putin trotz der Aufstände eine weitere Amtszeit als Präsident aufnehmen konnte, beschäftigen die Proteste den Kreml nachhaltig.

Seit 2012 verabschiedete das Parlament eine Vielzahl an Gesetzen, die die Presse und auch immer stärker einzelne Personen einschränken, die sich kritisch im Internet äußern. Die Gesetze verbieten bestimmten Inhalt, verstärken die Überwachung des Datenverkehrs und beschränken den Einfluss ausländischer Medienunternehmen.

Neue Gesetze geben Staat mehr Eingriffsmöglichkeiten

Außerdem existiert ein Gesetz, dass ein eigenes abgekoppeltes Internet vorsieht. So könne die Regierung Internetseiten einfacher sperren, ohne Mitwirkung – und sogar ohne Wissen – der Provider, sagt Gruska. Laut Ulrike Gruska sei es jedoch fraglich, ob und wann eine solche Abkopplung vom weltweiten Netz tatsächlich technisch umgesetzt werden kann.

Im Russlandbericht von Reporter ohne Grenzen aus dem Jahr 2019 kritisiert die Organisation außerdem die Qualität der Gesetze. Viele seien in großer Eile verfasst worden oder würden juristische Fehler aufweisen. Außerdem seien Regelungen häufig schwammig formuliert und beliebig auslegbar. So könne die Regierung unliebsame Berichterstattung oder Diskussionen in sozialen Netzwerken verhindern und Strafen verhängen.

Willkürliche Strafen für Medienunternehmen

“Für die Überwachung ist die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor zuständig”, sagt Gruska. “Sie ist für die Vergabe von Rundfunklizenzen und die Registrierung von Medien zuständig und führt eine ständig wachsende Liste verbotener Inhalte. Mittlerweile ist es eine riesige Behörde mit mehreren Tausend Angestellten.”

Immer wieder erteilen die Behörden willkürliche Strafen. 2019 musste zum Beispiel das Online-Portal Park Gagarina in Samara ein Bußgeld zahlen, weil die Mitarbeitenden die Seite an einem nachrichtenarmen Wochenende aktualisiert hatten. Dabei trifft die Willkür nicht nur die Presse. “Natürlich konzentrieren wir uns als Reporter ohne Grenzen auf die Presse und die Meinungsfreiheit, aber die Regierung geht insgesamt gegen die gesamte Zivilgesellschaft vor”, betont Gruska.

 

Kritik an der Universität

Auch Doxa hatte vor den Verhaftungen im April Schwierigkeiten mit ihrer journalistischen Arbeit. Das Magazin beschäftigt sich intensiv mit der Kritik an Universitäten und dem politischen Handeln von Studierenden. “Studierende werden unterdrückt oder rausgeworfen, wenn der Universität die politische Haltung nicht gefällt”, erzählt Anton Romanov. Er selbst studiert an der Staatlichen Universität Moskau, wo er mitbekommen habe, wie ein Dekan versucht hatte, Geld für Exkursionen zu entwenden.

“Meine Universität ist voll von Korruption und Beschränkungen”, kritisiert er. Eine weitere Universität in Moskau, die Higher School of Economics (HSE), hatte das Studierendenmagazin lang mit Redaktionsräumen und umgerechnet 120 Euro, als jährliche finanzielle Hilfe, unterstützt. Mit dem Geld konnten sie ihre Domain bezahlen, erzählt er.

“Die HSE hatte sich immer nach ein wenig mehr Freiheit angefühlt als meine eigene Uni.”

“Wir fingen im Sommer 2019 an über eine Prorektorin der HSE zu berichten, die eine politische Karriere anstrebte. Dies war einer der Gründe, warum wir in dem Jahr die Räume verlassen mussten und kein Geld mehr erhalten haben.” Im Juni hatte die Uni den Doxa-Mitarbeitenden außerdem verboten über ihre Verbindung zur HSE zu sprechen. “Ich bin nicht wütend über die Entscheidungen, sondern eher traurig. Die HSE hatte sich immer nach ein wenig mehr Freiheit angefühlt als meine eigene Uni”, erzählt Anton Romanov.

Kein Zugang zum Internet

Im Januar 2021 berichtete Doxa vermehrt über die Proteste, die im Zusammenhang mit der Verhaftung Nawalnys stattfanden. In der Zeit veröffentlichten sie auch das Video, das für Antons vier Kolleg*innen zum Verhängnis wurde. “Hausarrest in Russland kann nicht auf eine bestimmte Zeitspanne bestimmt werden. Es kann Jahre dauern, bis sie wieder frei sind.” Den vier Journalist*innen würde es so weit gut gehen, erzählt Anton. Sie hätten nur zwei Stunden Ausgang pro Tag. Außerdem dürften sie keine Kommunikationswege nutzen, wie zum Beispiel das Internet.

 

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In den zwei Stunden Ausgang müssten sie jeden Tag bei der Wache erscheinen. Dort würden sie vernommen. “Praktisch gesehen nimmt man ihnen so die freie Zeit draußen”, kritisiert der Doxa-Redakteur. Die Studierenden könnten sich aber auf der Wache austauschen. Außerdem dürften sie Briefe erhalten. “Einer meiner Freunde, der unter Arrest steht, ist sehr Twitter-süchtig. Er erhält Twitter-Threads per Post zu geschickt.”, erzählt er lachend.

Die Regierung wird nervös

Für Ulrike Gruska von Reporter ohne Grenzen ergibt es Sinn, dass der Kreml Studierende über den Herbst hinweg im Hausarrest kontrollieren will. „Das Regime zeigt sich sehr nervös vor der Parlamentswahl im September.

Epifanova glaubt nicht, dass es im September zu Komplikationen kommen wird. “Die Wahlergebnisse stehen gefühlt jetzt schon fest und es werden auch keine Leute von außerhalb mehr als Wahlhelfende dabei sein dürfen”, glaubt die Russland-Expertin. Somit hätten nur regierungstreue Russ*innen Einblicke in das Wahlgeschehen.

“Doxa zeigt uns allen, dass die Lage, wenn es solche jungen Journalist*innen trifft, wirklich gefährlich ist.”

Da Alexey Nawalny weiterhin in Haft ist und andere Oppositionelle das Land verlassen haben, gäbe es momentan wenige Leader, die Stimmung machen könnten. Laut Epifanova verfolgt der Kreml eher ein langfristiges Ziel. “Unabhängige Medien und Politiker werden jetzt ausgeschaltet. Jedes Risiko bis zur Präsidentschaftswahl 2024 muss vermieden werden. Das hat höchste Priorität für die Regierung.”

Dass Journalist*innen, die der breiten Öffentlichkeit unbekannt sind, in Haft müssen, ist für Epifanova ein dramatisches Signal, wenn es um die Pressefreiheit geht. “Doxa zeigt uns allen, dass die Lage, wenn es solche jungen Journalist*innen trifft, wirklich gefährlich ist.”

Anton Romanov kann sich nicht erklären, warum die Regierung es besonders auf Doxa abgesehen hat. “Ich verstehe manchmal nicht, wie sie denken. Es wirkt sehr irrational. Aber es ist klar, dass sie seit dem Video ein Auge auf uns haben”, sagt er. Mit ihm wollte die Polizei bisher noch nicht reden. Neben den vier Journalist*innen, haben jedoch acht weitere Mitarbeitende Vorladungen als Zeug*innen in dem Fall erhalten. “In Russland ist so etwas gefährlich: Erst ist man Zeuge und dann Täter. Es könnte jeden von uns als nächstes treffen.”

Beitragsbild: Anna Holina // Afisha Daily

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