Amedick, der Fall Enke und viele offene Fragen
TRIGGERWARNUNG: In diesem Text wird unter anderem das Thema Suizid behandelt. Wenn es Euch damit nicht gut geht, dann lest ihn bitte nicht.
Wenn Martin Amedick zurückblickt, macht er es mit Abstand und klarem Kopf. Er spricht ruhig, wohlüberlegt und kommt dann zu dem Schluss, dass ihn all das, was er bisher geschafft hat, „sehr, sehr glücklich macht.“ Amedick ist zufrieden. 76 Bundesliga-Einsätze stehen in seiner Vita, außerdem 102 Spiele in der zweithöchsten deutschen Spielklasse.
Mehr als ein Jahrzehnt ging er seinem Traumberuf nach, verdiente gutes Geld bei Arminia Bielefeld, seinem zu Jugendzeiten liebsten Verein Borussia Dortmund, dem 1. FC Kaiserslautern und Eintracht Frankfurt. Er feierte einen Bundesliga-Aufstieg, Tore und Siege. Und doch gibt es noch einen anderen Grund für seine Zufriedenheit.
Amedick litt während seiner Laufbahn an Depressionen, ließ sich erfolgreich therapieren und kehrte dann auf den Platz zurück. Zunächst brauchte er Zeit, um zu verstehen, warum er immer wieder völlig antriebslos im Bett blieb, anstatt seiner Arbeit in Frankfurt nachzugehen. Und er brauchte Zeit, sich Hilfe zu suchen und das Versteckspiel gegenüber dem Verein und der Öffentlichkeit zu beenden.
2012 ließ er eine Pressemitteilung versenden, sprach, da er noch nicht die gesamte Wahrheit sagen wollte, von einem „Erschöpfungssyndrom”, das ihn plage. Damit wurde er zu einem der wenigen Protagonisten im deutschen Fußball, der öffentlich machte, mental erkrankt zu sein – und wenige Monate später trotzdem wieder seinem Dienst nachging.
Laut dem Ärzteblatt, das von der Bundesärztekammer herausgegeben wird, leidet jeder sechste gesetzlich Versicherte in Deutschland mindestens einmal im Leben an Depressionen. Nimmt man noch andere psychische Erkrankungen hinzu, würden die Zahlen weiter wachsen.
Die Krankenkasse DAK-Gesundheit hat in einer Studie festgestellt, dass Arbeitnehmer immer mehr Fehltage wegen psychischer Erkrankungen in Anspruch nehmen müssen. Waren es 1997 im Schnitt 0,7 Krankheitstage, verzeichneten sie 2017 schon 2,5. Als häufigste psychische Erkrankung seien Depressionen angegeben worden.
Tragödie um Enke
Dass auch Leistungssportler vor psychischen Erkrankungen nicht geschützt sind, ist inzwischen bekannt. 2007 zum Beispiel beendete Sebastian Deisler seine Fußballkarriere wegen anhaltender Depressionen. Das einstmals bundesweit gefeierte Fußballtalent hat sich mittlerweile vollkommen zurückzogen. Ehe der Fall von Amedick öffentlich wurde, nahm sich außerdem Robert Enke im November 2009 das Leben. Zu dieser Zeit waren psychische Erkrankungen noch gar nicht richtig im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen.
Auch Enke, ehemals Nationaltorwart und Schlussmann von Bundesligist Hannover 96, litt an Depressionen. Zeitweilig ließ er sich zwar von einem Psychiater behandeln, sah aber im Gegensatz zu Deisler und Amedick trotzdem keinen anderen Ausweg, als sich vor einen fahrenden Zug zu stellen. Zu diesem Zeitpunkt war er 32 Jahre alt und schwer krank. Enke hinterließ seine Frau, ein Kind – und löste eine Debatte über psychische Erkrankungen im Profifußball aus.
Wie eine solche Tragödie künftig verhindert werden und erkrankten Spitzensportlern geholfen werden könne, wurde danach oft diskutiert – von Medien, Sportlern, Fachärzten. Etwas mehr als zehn Jahre später stellt sich die Frage nach der Entwicklung: Hat sich der Umgang mit psychischen Erkrankungen verbessert? Steht die psychische Gesundheit, wie es ein Trainer im Gespräch mit Kurt bezeichnet, wirklich „an erster Stelle“?
Wir haben Gespräche mit ehemaligen und noch aktiven Bundesligaspielern, Fußballlehrern sowie Sportpsychologen und -psychiatern geführt und schauen uns die Karrierestationen junger Profis an. Wo lauern spezielle Hürden – und wie ist es um das Sicherheitssystem für psychisch Erkrankte bestellt? Eine Bestandsaufnahme, die ebenso viel Licht wie Schatten offenbart.