“Es geht um menschlichen Anstand”

Gleichzeitig behaupten viele Jugendliche, dass der Antisemitismus in der NS-Zeit zu viel Raum im Unterricht einnimmt. Wie passt das zusammen?

Gar nicht. Entweder weiß man nichts oder man hat zu viel davon gehört. Beides haut nicht hin. Wenn dem so wäre, müsste deutlich mehr Wissen bei den Schülern vorhanden sein – was beispielsweise Ausschwitz war. Wenn nicht einmal Ausschwitz, das Allerschlimmste des nationalsozialistischen Verbrecherregimes, bekannt ist und auf der anderen Seite gesagt wird, man habe zu viel gehört, passt das nicht zusammen.

Braucht es dann ein Umdenken im Unterricht? Manche Schulen fahren nach Ausschwitz, sollte das zur Pflicht werden?

Dieser Vorschlag klingt wie ein Backrezept. Erziehung funktioniert so nicht. Der Besuch von Stätten des Grauens dient nicht unbedingt der Wissens- oder Gefühlsvermittlung. Für die einen ist es viel zu schockierend, für die anderen ist es ein Besuch wie jeder andere. Da isst man vorher oder nachher Cheeseburger – oder was auch immer.

Andere behaupten wiederum, die Aufarbeitung der NS-Zeit wird schwerer, weil die meisten Zeitzeugen schon tot sind.

Das ist Unsinn, der ständig wiederholt wird. Wir wissen, obwohl es dafür längst keine Zeitzeugen mehr gibt, wann und wie Caeser im Jahre 44 vor Christus ermordet wurde. Wir wissen wann, wie und was Alexander der Große gemacht hat. Das war auch nicht vorgestern. Ich war nicht dabei, Sie auch nicht. Wir kennen die Geschichte des Mittelalters und so weiter. Kurzum: Wenn es für die Vermittlung von historischem Wissen und moralischer Einordnung Zeitzeugen geben muss, dann hätten wir überhaupt keine Geschichtsvermittlung mehr.

Von AfD-Parteichef Alexander Gauland stammt die verharmlosende Aussage über die NS-Zeit, der Nationalsozialismus sei nur ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte. Sind solche Aussagen nicht gefährlicher ohne Zeitzeugen?

Auch wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, besteht trotzdem noch das Wissen über die NS-Verbrechen. Das Widerlegen hängt nicht von Zeitzeugen ab! Nebenbei: Gaulands Vergleich war quantitativ (Anm. d. Red. zahlenmäßig), nicht normativ (Amn. d. Red. nicht richtungsweisend). Er verglich tausend Jahre deutscher Geschichte versus zwölf Jahre NS-Geschichte. Dass er bewusst die beiden Kategorien vermischte, steht auf einem anderen Blatt. Wie reagieren, wenn Gauland sagt, es regnet und es regnet wirklich.

Ein Beitrag von
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