Kommentar: Scheuer macht sich unglaubwürdig

 

Sichere Straßen scheinen auf der Prioritätenliste von Andreas Scheuer hinter der Zufriedenheit rasender Autofahrer zu stehen: Denn Scheuer will verschärfte Regeln gegen rasende Autofahrer wieder aufheben. Am Donnerstag (14.05.2020) wurde bekannt, dass Bundesverkehrsminister Scheuer den am 28. April in Kraft getretenen Bußgeldkatalog teilweise zurücknehmen will.

Der zentrale Streitpunkt der neuen Regeln: Wer innerorts mehr als 21 Kilometer pro Stunde zu schnell fährt, verliert mit dem neuen Bußgeldkatalog zeitweise den Führerschein. Der Bundesverkehrsminister will die Chance auf mehr Sicherheit offenbar nicht nutzen, obwohl jedes Jahr immer noch mehr als 3 000 Menschen bei Verkehrsunfällen sterben. Und bei knapp neun Prozent der Unfälle, bei denen es Verletzte oder Tote gibt, sind Raser schuld. Die neuen Regeln könnten also eine Chance für sicherere Straßen sein: Wer auf sein Auto angewiesen ist, wird die Geschwindigkeit nicht mehr so leichtfertig überschreiten, denn dann ist der Lappen weg.

Der Bundesverkehrsminister sieht das offenbar anders. Denn Scheuer wollte die verschärften Regeln von Anfang an nicht. Dennoch wurden sie im Bundesrat beschlossen. Scheuer nimmt sie aber wieder zurück, denn sein Ministerium sei zu der Auffassung gelangt, dass die Fahrverbote unverhältnismäßig seien. Nachdem es aus der Bevölkerung heftige Proteste gab, sagte er dem ZDF: „Zahlreiche Bürger, die auf ihr Auto angewiesen sind, haben uns geschrieben. Sie haben Angst, ihren Führerschein und damit ihren Job zu verlieren.“ Außerdem sagte Scheuer gegenüber der dpa, mit einer Änderung solle die Akzeptanz und das „Gerechtigkeitsempfinden“ wieder hergestellt werden.

Chronologie des Bußgeldkatalogs

Der neue Bußgeldkatalog war Ende April in Kraft getreten, nachdem er durch den Bundesrat im Februar in zahlreichen Punkten verschärft wurde. Die Verkehrsminister der Länder hatten diese Verschärfungen eingebracht und dann den Gesetzentwurf Scheuers einstimmig verabschiedet. Scheuer hat den geänderten Bußgeldkatalog daraufhin mit den Verschärfungen Ende April erstmal komplett in Kraft gesetzt – obwohl zu dem Zeitpunkt schon abzusehen war, dass Scheuer den neuen Bußgeldkatalog nicht in der Form gelten lassen wird. Die Alternative wäre aber gewesen, den gesamten Bußgeldkatalog zurückzuziehen. Den dann zu überarbeiten, hätte lange gedauert. Jetzt sollen nur Strafen bei Geschwindigkeitsüberschreitungen überarbeitet werden, die anderen Punkte sollen in dieser Form aber bestehen bleiben.

Es ist absurd, dass ein Minister das Gerechtigkeitsempfinden in der Bevölkerung wiederherstellen will, indem er sich für die einsetzt, die Recht brechen. Denn Höchstgeschwindigkeiten gibt es nicht ohne Grund. Sie sollen für mehr Sicherheit im Straßenverkehr sorgen. Doch Rasen gilt im Autoland Deutschland nach wie vor als Kavaliersdelikt. Es ist jedoch eines, das Menschenleben kostet.

Scheuer beugt sich einer Minderheit

Das könnte sich mit dem neuen Bußgeldkatalog ändern. Doch es gibt eine Petition gegen die schärferen Regeln. Obwohl die am Donnerstag (14.05.2020) gerade einmal 135 000 Unterstützer (Stand: 14.05.2020) hatte, gab Scheuer an diesem Tag bekannt, die härteren Strafen wieder zurückzunehmen. Mittlerweile hat die Petition mehr als 155 000 Unterstützer (Stand: 25.05.2020).

Eine lachhafte Zahl angesichts der insgesamt 47 Millionen Autofahrer in ganz Deutschland. Und nebenbei auch noch völlig grotesk: Das scheint eine Raser-Petition zu sein. Denn es werden wohl kaum Autofahrer, die sich immer an die Verkehrsregeln halten, die Petition unterschrieben haben. Die haben schließlich auch bei härteren Strafen nichts zu befürchten. 20 Kilometer pro Stunde zu schnell sind die nämlich nicht.

Doch dem Minister scheint das egal zu sein. Er macht Politik, die von Petitionen bestimmt wird. Das Signal, das Scheuers Umgang mit der Situation aussendet, ist eindeutig: Wenn sich nur genug Leute beschweren, dann wird die Politik schon ihre Richtung ändern, auch wenn die Zahl der sich Beschwerenden noch so gering sein kann in Relation zur Gruppe Betroffener.

Petitionen-Politik

Wenn sich die Bundespolitik nun immer danach richtet, müsste Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wegen seines Umgangs als Gesundheitsminister mit der Corona-Pandemie schon längst zurückgetreten sein. Es gibt nämlich auch eine Petition für den Rücktritt des Gesundheitsministers Jens Spahn. Der Minister sei nicht kompetent, so die Initiatoren. Dass es eine solche Petition nicht schon gegen Scheuer gibt, ist verblüffend.

Schließlich hat er auch beim Maut-Debakel Fehler gemacht, daran erinnern sich viele Deutsche. Wenn er jetzt noch Inkonsequenz bei harten Strafen gegen Raser walten lässt, wird das sein Ansehen kaum steigern. Und es könnte noch viel weitreichendere Konsequenzen haben: Scheuers Vorgehen könnte die Glaubwürdigkeit der ganzen Regierung beschädigen.

Neue Gesetze sind für die Entwicklung der Gesellschaft wichtig

Scheuer wird seiner Rolle als Mitgestalter der deutschen Gesellschaft nicht gerecht. Denn die Aufgabe von Politikern ist es, auch mal mit einer unpopulären Meinung die gesellschaftliche Entwicklung in die richtige Bahn zu lenken.

Aufregung gibt es bei neuen Verordnungen immer. So würde es heute nur wenigen Autofahrern einfallen, ohne Sicherheitsgurt und mit mehr als 0,5 Promille Auto zu fahren. Dabei wurde der Sicherheitsgurt erst 1975 zur Pflicht und sorgte unter deutschen Autofahrern für große Empörung. Auch die Promillegrenze von 0,5 gibt es erst seit 2001. Dabei waren die Regeln offensichtlich notwendig, damit sich die Gesellschaft weiterentwickelt.

Genau deswegen müssen Politiker ihre Standpunkte ständig überdenken. Ihnen sollte es zugestanden werden, ihre Meinung zu ändern und dennoch nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Es gehört zur persönlichen Entwicklung, eigene Standpunkte und Einstellungen immer wieder auf die Probe zu stellen und sie zu überdenken.

Besonders Politiker beschäftigen sich täglich mit neuen Entwicklungen. Daraus erstellen sie dann eine Gesetzesgrundlage. Dabei gibt es aber Unterschiede: zum Beispiel zwischen Merkels Kehrtwende bei der Homo-Ehe und Scheuers Rückzug beim Bußgeldkatalog.

Scheuer muss mit Protest gerechnet haben

Die Bundeskanzlerin hatte vor der Abstimmung im Juni 2017 im Bundestag den Fraktionszwang der Abgeordneten aufgehoben. Das bedeutet, dass jeder Abgeordnete frei entscheiden kann. Damit wurde die Ehe für alle möglich.

Dass die Kanzlerin im Vorfeld der Abstimmung von ihrer bis dahin bestehenden Meinung abrückte, lässt sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung begründen. Denn Homosexualität ist kein Tabu-Thema mehr, wie das früher der Fall war.

Scheuers Kehrtwende allerdings ist keine Meinungsänderung, die sich durch eine gesellschaftliche Weiterentwicklung ergeben hat. Er muss schon vor dem Inkraftsetzen der Bußgeldverordnung mit Protesten gerechnet haben. Deswegen sollte er konsequent an der Änderung festhalten. Denn bei 135.000 Unterschriften einer Petition kann man nicht von einer gesellschaftlichen Mehrheit sprechen. Und zwei Wochen sind sicher nicht lang genug, damit ein Minister ein von ihm vorgelegtes Gesetz verwerfen kann.

Beitragsbild: Pixabay/ Peter H

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