Jung und Alt schreiben Briefe gegen die Einsamkeit

Dominik Jäschke übergibt einen Brief gegen die Einsamkeit an eine Bewohnerin.

74 Jahre Altersunterschied liegen zwischen Reemda Hahn (21) und ihrer Briefpartnerin (95). Beide sind Teil des Projekts “UnVergessen – Briefe gegen Einsamkeit” des Instituts für Slavistik der Ruhr-Universität Bochum.

Das Konzept: Jung und Alt tauschen sich aus, erzählen aus ihrem Leben. 17 Pflegeeinrichtungen im Ruhrgebiet empfangen Briefe von Studierenden und verteilen sie an ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Diese entscheiden dann, ob sie auch eine Antwort zurück schicken möchten. Das gegenseitige Interesse ist groß: Aktuell schreiben sich über 170 Briefpaare – und das nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Russisch, Polnisch, Italienisch, Spanisch und Chinesisch. “Ein Brief ist etwas sehr persönliches. Es ist wahnsinnig interessant, zu erfahren, was sie so zu berichten hat”, erzählt Reemda über den Kontakt mit ihrer Briefpartnerin.

Besuche aufgrund von Corona vermeiden

Das Projekt “UnVergessen” wurde 2016 durch Dr. Katrin B. Karl von der RUB ins Leben gerufen. Bisher haben Studierende, die mehrere Sprachen beherrschen, mehrsprachige Pflegebedürftige für jeweils ein Jahr regelmäßig in ihrer Pflegeeinrichtung besucht, um sich in den jeweiligen Muttersprachen auszutauschen. Aufgrund des Coronavirus mussten die persönlichen Besuche jedoch eingestellt werden. Seit Ende März werden nun stattdessen Briefe geschrieben und eine deutlich größere Personengruppe in das Projekt eingebunden.

Persönliche Informationen mit einer fremden Person austauschen?

Diesen Brief hat eine Studentin für eine erste Kontaktaufnahme geschrieben.

“In ihrem ersten Brief stellen sich die Studierenden zunächst vor und berichten meist auch von den Hintergründen des Projekts”, weiß Katrin B. Karl. “Oft werden auch Fotos, Selbstgebasteltes oder gemalte Bilder mitgeschickt.” Welche Bewohnerinnen und Bewohner Briefe erhalten, entscheiden die Pflegeeinrichtungen intern.

“Ich habe gemeinsam mit meinem Kollegen überlegt, welche Bewohnerinnen und Bewohner von den Briefen profitieren können”, erzählt Dominik Jäschke. Er ist Altenpfleger im DRK-Seniorenzentrum Freisenbruch in Essen. Im Nachhinein würde er jedoch vorher das Interesse abfragen: “Einige, bei denen wir gedacht haben, dass sie sich sehr freuen würden, hatten eine gewisse Skepsis oder kein Interesse an einem weiteren Austausch.”

Manchen Pflegebedürftigen sei es nicht ganz geheuer, persönliche Informationen mit einer eigentlich fremden Person auszutauschen. Das könne zum Beispiel der Fall sein, wenn sie psychische Einschränkungen oder schon Enkel haben. Insgesamt sei das Projekt jedoch positiv aufgenommen worden: “Es steigert das Selbstwertgefühl, wenn jemand Junges von außen, der eigentlich auch ganz viele andere Beschäftigungsmöglichkeiten hat, sich Zeit nimmt, um einen schönen Brief zu schreiben”, bemerkt Dominik Jäschke. Pflegebedürftige, die im Briefkontakt wieder die Möglichkeit haben, in ihrer Muttersprache zu kommunizieren, freuen sich besonders über die Aktion.

Auseinandersetzung mit Krankheiten und dem Thema Tod

Die Studierenden tauschen sich regelmäßig in einem Moodle-Raum über ihre Erfahrungen aus. Dort haben sie nicht nur die Möglichkeit, zu chatten, sondern können auch Briefe, die sie geschrieben oder empfangen haben, in anonymisierter Form hochladen und solche von anderen Briefpaaren lesen. Die RUB bietet außerdem ein projektbegleitendes Seminar über zwei Semester zur Auseinandersetzung mit der Institution Pflegeheim, bestimmten Krankheiten und auch dem Thema Tod an. In Forschungsarbeiten werden unter anderem sozialwissenschaftliche Aspekte reflektiert. “Wir beschäftigen uns beispielsweise damit, wie es eigentlich gelingt, durch den Brief Kontakt zu einer fremden Person aufzunehmen und wie sich danach die Beziehungsarbeit gestaltet”, erläutert die Projektleitung Katrin B. Karl. Die Briefe der Pflegebedürftigen haben außerdem teilweise ein anderes Schriftbild, als wir es heute kennen. So ist auch die Veränderung von Sprache Thema des Seminars.

Durch Antwortkarten Barrieren überwinden

“Wenn man bei dem Projekt mitmacht, muss man im Hinterkopf behalten, dass viele Menschen aufgrund von Krankheiten oder einem hohen Alter ins Pflegeheim kommen. Es ist einfach nicht wie eine Brieffreundschaft mit Gleichaltrigen”, findet Reemda. Trotzdem hofft sie, dass ihre Briefpartnerin weiterhin gesund und der Kontakt noch lange erhalten bleibt: “Ich glaube, dass sie viel zu erzählen und noch ein großes Interesse hat, Dinge zu lernen!”

Nicht alle pflegebedürftigen Briefempfängerinnen und Briefempfänger sind noch dazu in der Lage, selbstständig zu antworten. In diesen Fällen bekommen sie entweder Unterstützung vom Pflegepersonal, oder den Briefen werden vorgefertigte Antwortkarten beigelegt. Auf ihnen kann dann Zutreffendes angekreuzt werden, wie zum Beispiel ob und wie viele Kinder eine Person hat. “Da hat sich jemand richtig Gedanken gemacht, das finde ich super”, lobt Altenpfleger Dominik Jäschke die Studierenden für ihre Kreativität.

Das Generationenbild verändert sich

Die Themen der Briefe sind individuell und abhängig von den persönlichen Interessen der Briefpaare. “Durch den Kontakt mit der anderen Generation werden häufig Denkprozesse angestoßen und eigene Positionen hinterfragt”, beobachtet Katrin B. Karl. Das sei besonders bei der Aufarbeitung geschichtlicher Themen der Fall. Oftmals können die Pflegebedürftigen von eigenen Erfahrungen im zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit berichten. Auch Reemdas Kontakt mit ihrer 95-jährigen Briefpartnerin hat ihr Bild über das Alter verändert: “Man geht ja häufig davon aus, dass ältere Menschen nicht mehr so viel mitbekommen, aber wir begegnen uns total auf Augenhöhe. Es hat mich überrascht, dass sie in ihrem Alter noch so fit ist!”

Vor kurzem haben sie zum ersten Mal auch miteinander telefoniert: “Sie hat mir von ihrer Ehe und wo sie im Laufe ihres Lebens schon gewohnt hat erzählt. Wir haben auch ein bisschen über die Corona-Zeit und darüber, dass sich die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten sehr verändert hat, geredet. Und dann habe ich ihr auch noch von mir erzählt. Zum Beispiel, welchen Beruf ich ergreifen möchte.” Vielleicht werden sie sich demnächst auch persönlich kennenlernen.

Beitragsbild: DRK Essen

Foto im Text: privat

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