Der 9. November ist ein wichtiger Tag des jüdischen Gedenkens. Für den Historiker Michael Wolffsohn ist die Auseinandersetzung mit Antisemitismus nicht abhängig von Zeitzeugen, sondern eine Frage der Menschlichkeit. Das erklärt er im Interview mit KURT.digital.
Herr Wolffsohn, Sie sind Jude und in Tel Aviv geboren, weil Ihre Eltern 1939 aus Deutschland geflohen sind. Welche Bedeutung hat der 9. November 1938 für Sie?
Ich bin 1947 geboren und Historiker. Persönlich also keine, weil ich erst später geboren bin. Ansonsten ist das natürlich ein Tag, über den man in jeder Hinsicht nachdenken muss – in seinem historischen Zusammenhang. Man kann nicht nur 1938 sehen, sondern muss auch 1918, 1923 und 1989 betrachten. Dann kann man viel über Geschichte lernen. Geschichte ist vielschichtig. Genau diese verschiedenen Schichten ermöglichen das Nachdenken über den 9. November – in seiner Vierheit! Licht und Schatten werden so erkennbar.
Konzentriert auf den 9. November 1938, wie benennen Sie das Datum?
Das heißt Reichskristallnacht. Reichspogromnacht ist im Wettbewerb DDR-BRD entstanden. Die DDR behauptete, dass der Begriff Reichskristallnacht eine Verharmlosung wäre. Das ist Unsinn. Die Reichskristallnacht ist ein Begriff, den der Berliner Volksmund unmittelbar nach jener Schreckensnacht geprägt hat. Es war für jedermann sichtbar, dass deutlich mehr als Kristall kaputt gegangen ist. Der Begriff ist also eine Ironisierung des Schrecklichen. Die Verharmlosung ist nur scheinbar.
Der Begriff ist ja umstritten. Aber Sie sagen “Reichskristallnacht”?
Nicht nur ich, eigentlich die gesamte jüdische Welt. Damals und heute. Juden sind ja wohl mehr davon betroffen als nachgeborene Deutsche – oder? Ich sage Reichskistallnacht, weil das genau den angedeuteten und erkennbaren Widerwillen gegenüber dem nationalsozialistischen Verbrechen zeigt. Das war damals zwar nicht repräsentativ für die Deutschen, aber es war durchaus ein Signal für vorhandene Kritik.
Und wie glauben Sie, hat sich der Umgang mit dem Antisemitismus in der Nazi-Zeit verändert? Wie unterscheidet sich da meine Generation von der meiner Eltern?
Die Generation ihrer Eltern als Ganzes betrachtet, also ohne individuelle und andere Unterscheidungen, hat seltener NPD gewählt, als ihre Generation heute die AfD. Umfragen zeigen, dass das Wissen über den Nationalsozialismus erstaunlicherweise eher abgenommen, als zugenommen hat. Das wiederum wundert mich, weil in allen Lehrplänen die intensive Beschäftigung mit der NS-Zeit fixiert ist. Daraus könnte man schließen, dass es in der Vermittlung dieser Pflichtstoffe – zurecht Pflichtstoffe – Defizite gibt. Worin die begründet sind, weiß ich nicht. Es kann aber an einer nur moralisierenden und nicht faktenbegründeten Vermittlung der NS-Zeit liegen. Um die tatsächlichen Gründe herauszufinden, braucht es genaue und tiefgreifende Analysen.