Marzieh (21) lebt in Afghanistan: “Ich darf zumindest mein Studium beenden”

Marzieh (21) studiert Wirtschaft an der Universität von Herat, der zweitgrößten Stadt in Afghanistan. 20 Jahre lang waren ausländische Truppen in ihrer Heimatstadt stationiert. Nach deren Abzug im vergangenen Jahr studiert sie nun unter der Regierung der Taliban, die am 15. August 2021 die Macht übernommen haben. Was das bedeutet und wie sich Marziehs und das Leben vieler anderer dadurch verändert hat – in diesem Interview gibt sie einen Eindruck.

Wie sah dein Alltag aus, bevor die Taliban in Afghanistan an die Macht kam?

Marzieh (21) studiert Wirtschaft an der Universität von Herat, der zweitgrößten Stadt in Afghanistan. Foto: privat

Mein Alltag war viel abwechslungsreicher. Ich war von morgens bis mittags in der Uni. Nach meinen Uni-Kursen bin ich dreimal die Woche zu einem Praktikum bei der Regierung gegangen. Das hat mir besonders viel Spaß gemacht und war eine Möglichkeit für meinen Berufseinstieg. Zweimal die Woche habe ich einen Englisch-Kurs besucht.

Hast du mit einer Machtübernahme der Taliban gerechnet?

Niemals hätte ich damit gerechnet, dass die Taliban wieder unser Land von uns einnehmen könnten. Ich habe gedacht, dass unsere Regierung dem gewachsen ist. Es war für mich eine richtige Überraschung, als es in Herat auf den Straßen losging. Es war unfassbar.

Wie hast du die Woche der Übernahme wahrgenommen?

In den ersten Tagen der Machtübernahme habe ich es wie gesagt gar nicht geglaubt oder realisiert, was passiert. Es gab Auseinandersetzungen um uns herum, aber das gab es immer irgendwo in Afghanistan. So richtig klar ist es mir erst geworden, als ich die Schüsse in Herat gehört habe. Von dem Zeitpunkt an bin ich fast nur zu Hause geblieben. Die Schüsse fielen nur zwei Tage lang, aber uns war allen nicht klar, was jetzt auf uns zukommen würde.

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Was hat sich in deinem Alltag verändert?

Zunächst waren nach der Übernahme für sechs Monate alle Schulen und Universitäten geschlossen. Das hieß, wir Frauen waren die meiste Zeit zu Hause. Ein großer Unterschied zu vorher war, dass die Jungs und Mädchen in der Uni alle getrennt wurden. Die Mädchen gehen morgens in den Unterricht und die Jungs mittags. Zudem findet mein Praktikum nicht mehr statt. Das finde ich besonders schade. Der Abbruch der Zusammenarbeit bedeutet für uns Mädchen, dass es nach dem Studium für uns nichts mehr gibt.

Wie ist es, unter diesen Umständen zu studieren?

Man merkt es im Alltag sehr deutlich. Es gibt viel weniger Professoren an meiner Universität und auch Ämter und Behörden sind teilweise nicht besetzt. Die Lehrer bekommen nur noch ein geringes Gehalt. Es gibt kaum noch erfahrene Lehrkräfte. So sieht das eigentlich überall aus. Es gibt auch für Männer kaum Arbeit. Ich muss aber auch sagen, dass es einige Besserungen gibt, seit die Taliban regiert. Es gibt Bushaltestellen und Ampeln wurden gebaut. Obendrein sind die Straßen mit Laternen ausgestattet worden und es wird wieder einiges aufgebaut, das in den letzten 20 Jahren zerstört wurde.

Was sind deine Ziele mit einem abgeschlossenem Wirtschaftsstudium in Afghanistan?

Um ehrlich zu sein, ist mein einziges Ziel, das letzte Jahr meines Studiums zu beenden. In der aktuellen Lage werde ich mein Diplom sicher nicht nutzen können, aber ich möchte auch nicht einfach aufhören. Arbeiten werde ich unter der Regierung der Taliban nicht dürfen. Ich darf zumindest mein Studium beenden. Dafür bin ich dankbar.

Hast du schon mal daran gedacht zu flüchten?

Nein, das habe ich bis jetzt noch nie in Erwägung gezogen. Letztes Jahr war ich zufrieden damit zu studieren und habe auf meinen Job bei der Regierung hingearbeitet. Ich hatte einen geregelten Alltag und habe mein Leben gelebt. Nun jedoch sind die Umstände etwas anderes. Ich finde es einfach sehr ungerecht. Als Student arbeitet man darauf hin, seine Berufung zu finden. Man strengt sich an, lernt und ist fleißig. Man hat es sich verdient, in seinem Fach dann auch zu arbeiten.

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Wie hast du den Abzug der Truppen im letzten Jahr wahrgenommen?

Marzieh studier in der Universität von Herat Wirtschaft
“Ich glaube, ich spreche alle jungen Afghaninnen und Afghanen, wenn ich sage: Wir wollen Souveränität für unser Land”, sagt Marzieh (21). Sie lebt und studiert in Afghanistan. Foto: privat

Die ausländischen Truppen hatten schon immer ihre Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite gab es mehr Arbeit im Land und es wurde mehr Handel betrieben. Es gab für uns Frauen und Mädchen etwas mehr Freiheiten. Die Schulen waren offen und man konnte sich freier bewegen. Wir als Afghaninnen und Afghanen hatten aber gefühlt keinen Wert in unserem eigenen Land. Es hat etwas Schreckliches, von Ausländern in deiner eigenen Straße herumkommandiert zu werden. Außerdem gab es zu der Zeit sehr viel Korruption im Land. Straftaten wurden nicht verfolgt, Korruption und Überfälle waren Alltag. Auch wenn es noch nicht besser geworden ist, liegt es nun in der Hand der Afghanen, sich selbst zu helfen.

Kannst du dir vorstellen, dass die Lage in Afghanistan sich bessert?

Um ehrlich zu sein, sehe ich aktuell schwarz für mein Land. Wie bereits gesagt, haben wir keine gebildeten Menschen mehr im Land. Es fehlen nicht nur Professoren an der Uni. Überall mangelt es an qualifizierten Arbeitskräften. Es wird Tag für Tag schlimmer. Ärzte, Anwälte, Richter alle verlassen das Land. Das ist das größte Problem, das wir haben. Wie sollen wir auf diese Weise Fortschritt erlangen? Vor allem für die Mädchen und Frauen sehe ich keine Zukunft ohne Bildung.

Was erhoffst du dir für die Zukunft von Afghanistan?

Ich glaube, ich spreche alle jungen Afghaninnen und Afghanen, wenn ich sage: Wir wollen Souveränität für unser Land. Und vor allem eine Sache: ehrliche und anhaltende Ruhe. Wir hätten gerne Unterstützung. Aber sie sollte ehrlich sein und dem Volk gewidmet. Wir wollen, dass wenn uns jemand hilft, er es unseretwegen tut. Nicht, weil eine Agenda oder politische Interessen sie dazu bringen. Die afghanische Bevölkerung weiß, dass sie ein Spielball ist. Denn bis jetzt hat jedes Land, das zum Helfen kam, nur seinen eigenen Nutzen gesucht. Ich hoffe, die Menschen hier können irgendwann zur Ruhe kommen und wieder Hoffnung haben. Für die meisten gibt es nämlich keine. Ich wünsche mir, dass es für die jungen Kinder in der Zukunft besser aussieht.

Beitragsbild: Farid Ershad / Unsplash

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